Welcome to convergence culture, where old and new media collide, where grassroots and corporate media intersect, where the power of the media producer and the power of the media consumer interact in unpredictable ways.

Henry Jenkins

Henry Jenkins Worte künden von einer neuen Zeit, von einem historischen Knotenpunkt, an dem sich unsere Gesellschaft radikal wandelt und an dem diese Wandlung alle Bereiche un­ser­es Lebens betrifft. Für ihn ist es die Convergence Culture (so sein Buchtitel), die in den Medien, und damit in Erweiterung auch im Bereich ihrer Inhalte, nämlich in der Kunst und der Literatur, eine Wand­lung mit sich bringt. Für Zygmunt Bauman ist es die Glo­ba­li­sie­rung, die derzeit die sozia­len Strukturen unseres Planeten beeinflusst und dort, bedingt durch die neuen Medien, zu gra­vierenden Umwälzungen führt. Und für Fredric Jameson sind es die „historic originalities of late capitalism – its cybernetic technology as well as its globalizing dynamics – and the emergence, as well, of new subjectivities such as the surcharge of multiple or ‚parcellated’ subject positions characteristic of postmodernity,“ (214) die uns Menschen in immer neue Anpass­ungen an die uns umgebende Welt zwingt.

Medienwissenschaftler, Philosoph oder Kulturwissen­schaftler – Ihnen allen ist gemein, dass sie im Hier und Jetzt des neuen Jahrtausends eine Wandlung der Ge­sell­schaft sehen, einen spezi­fischen Ausdruck neuer medialer, sozialer und politischer Re­ali­täten, der uns und unsere Kul­tur maßgeblich prägt. Und da sowohl im eng­lischen als auch im deut­schen Sprach­ge­brauch Kultur, zumindest in seiner modernen und ge­bräuchlichen Wort­be­deu­tung den gene­rellen Prozess der intellektuellen, spirituellen und ästhe­tischen Entwick­lung, insbesondere aber auch dessen Arbeiten und Praktiken intellek­tueller und speziell künst­­lerischer Aktivität beinhaltet, sind sowohl (bildende) Kunst als auch Literatur an die­sem Wandel beteiligt (vgl. Williams 90). Um sich also dem postulierten historischen Knotenpunkt aus kul­tur­wissen­schaftlicher Sicht zu nähern, erscheint es sinnvoll, sich ein Bild davon zu ma­chen, wie es um die Literatur und die Kunst steht, in dieser schönen neuen Welt.

1. Schöne neue Welt

Fredric Jameson sieht in der Globalisierung der heutigen Zeit eine Dezen­tra­li­sierung und eine Mul­tiplikation von Kulturen, die je nach Wertung entweder als „dystopian vision of world control“ oder aber als „celebration of world multiculturalism“ (215) gesehen wer­den können. Eine Erhaltung von Kontrolle im Lokalen, ein Widerstand gegen die über­wäl­tigenden Marktkräfte des Globalen, so Jameson, sei schier unmöglich. In Bezug auf das Kulturschaffen seien diese Kräfte durch zwei Phänomene geprägt: einerseits durch die weite Ver­breitung des Tourismus, der die Kultur einer Gesellschaft zur Produktion von Tourismuskunst zwinge und somit ältere nationale oder lokale Formen von Kultur ablöse. Andererseits würde lokale Kultur aber auch durch „Disneyfication“ bedroht, „the process whereby inherited cultural images are now artificially reproduced“ (215). Die somit ge­schaffene Pluralität der Kultur ist im Grunde ebenso sehr ein Problem, wie die durch Touris­mus geschaffene Angleichung von Kultur.

Zu einer ähnlichen Analyse kommt auch Zygmunt Bauman, der in Globalisierung ein Phäno­men der Zeit erkennt, das zugleich „divides as it unites – the causes of division being identical with those which promote the uniformity of the globe” (2). Er sieht im Unterschied zu historischen Globalisierungstrends heutzutage einen massiven Unter­schied in der Entwicklung der Medien. Dank der enormen Geschwindigkeit mit der die ‚Glo­ba­len’ heute kommunizieren, sei, so Bauman, der Vorteil und damit die Widerstands­mög­lich­keit der ‚Lo­kalen’ verloren gegangen. Ebenso wie sich die sozialen Realitäten von Arbeit durch die Medien veränderten, in dem virtuelle Firmen ihren Arbeitsbedarf an den meist­bie­ten­den Lo­kalen versteigerten, so würden auch im privaten Raum die Medien die Bedürfnisse der Lo­kalen verändern: „Segregated and separated on earth, the locals meet the globals through the regular televised broadcasts of heaven“ (54). Den Medien komme hierbei die Rolle des Verführers zu, der die Begehrlichkeiten des Daseins durch den Konsum in ver­meint­lich greifbare Nähe rücke. Wenn aber nun die Medien und die durch sie ermöglichte Kommu­ni­kat­ionsgeschwindigkeit im Bereich der Arbeit für die Kluft zwischen Globalen und Lo­ka­len ver­ant­wortlich sind, wie Bauman argumentiert, so verstärken sie die Probleme durch die von Ihnen global suggerierten Wünsche umso mehr, da diese ohne lokale Ar­beit niemals er­reich­bar sind. Die neuen, digitalen Medien erschaffen somit in der Konsequenz eine globa­li­sierte, neue soziale Welt­ordnung.

Henry Jenkins proklamiert ebenfalls eine neue Ordnung sozialer Systeme, allerdings teilt er nicht Baumans kritische Sicht auf die Potentiale der neuen Medien. Für Jen­kins, ebenso wie für Klaus Bruhn Jensen, besteht in den digitalen Medien eben auch eine Chan­ce zur positiven Veränderung der Machtverhältnisse. So beschreibt Bruhn Jensen zum Beispiel ein Kom­muni­kations­modell, nach dem die Nutzer digitaler Medien, insbesondere des Inter­nets, dank des Aus­maßes und der Geschwindigkeit des Informationsaustausches völlig neue For­­men sozi­aler Inter­aktion und Strukturierung erschaffen: „the user’s sense of continuous activity, performativity, and, perhaps, empowerment is likely to contribute to a different model of ‚communication’ than, for instance, those connected with the transmission of information“ (271). Somit könnten alte Modelle, wie zum Beispiel das der linearen Über­tragung von Infor­ma­­tio­nen abgelöst werden. Jenkins greift eben diese Ana­lyse auf, wenn er einen Para­dig­men­wech­sel in den Medien diagnostiziert. Laut Jenkins sind zeit­genössische Medien­nutzer in der La­ge neue Formen von kulturellen Produkten einzu­for­dern, diese mit­zu­gestalten und sich selbst da­durch zu bemächtigen. Seine convergence culture bezieht sich daher nicht nur auf die Ver­misch­­ung von Medienfunktionen und –plattfor­men, sondern auch und insbesondere auf die Verän­derung der Nutzer und ihrer sozialer Sys­teme:

Convergence occurs within the brains of individual consumers and through their social interactions with others. Each of us constructs our own personal mythology from bits and fragments of information extracted from the media flow and transformed into resources through which we make sense of our everyday lives. Because there is more information on any given topic than anyone can store in their head, there is an added incentive for us to talk among ourselves about the media we consume. (3f.)

Für Jenkins fördert dieser zusätzliche Anreiz zwei herausragende Elemente der convergence culture zutage: das der partizipatorischen Gemeinschaft und das der kollektiven Intel­li­genz. Für ihn bestehen kulturelle Artefakte der heutigen Zeit mehr und mehr aus unüber­sichtlich vielen Einzelteilen. Um deren Inhalte zu entschlüsseln, ist die Beteiligung an einer Ge­mein­schaft notwendig, die auf das separate Wissen und die Erfahrungen vieler Individuen zurück­greifen kann. Doch neben der Funktion der kollektiven Intelligenz erfüllen diese Ge­mein­schaften auch eine Identitätsfunktion für die Mitglieder, die zu sozialer Bindung und den von Jensen beschriebenen neuen Formen sozialer Interaktion und Struk­tur­ierung führt.

Eben diese Funktionen von Identitätsstiftung und sozialer Strukturierung hatten für lange Zeit die klassischen Formen der Kultur inne, wie etwa die Literatur oder die Kunst. So verweist Ray­mond Williams auf die Wichtigkeit des Nationalgefühls, das in einer Nationalliteratur Aus­­druck findet, für die Konstitution der sozialen und kulturellen Entwicklung im 18. Jahr­hun­dert (vgl. 185). Da der Begriff ‚Literatur’ aber auch immer der Re-Interpretation der jeweiligen Epo­che unterlag und somit jeweils wieder neu ausgehandelt werden musste (vgl. Nünning / Nünning 73), sieht Phillip Wegner in eben dieser Aushandlung eine Reflektion der Ansichten über unser soziales und kul­­turelles Leben: „Thus, changes in the role and contours of the concept [literature] can serve as invaluable indices to larger institutional and structural developments” (185). Die Frage nach dem status quo von Literatur und Kunst ist daher für Wegner gleich­bedeutend mit einer „interrogation of the nature of globalization in our contemporary moment” (185).

2. Mustererkennung

In der Kritik zu William Gibsons Roman Pattern Recognition ist eines unübersehbar: der Ver­such den Roman einerseits aus Gibsons angestammtem Genre, der Science Fiction (SF), zu ent­­heben, und ihn andererseits dennoch mit den Mitteln eben dieses Genres zu analysieren, indem man ihn als ein die Gegenwart kommentierenden Zukunftsroman liest. Paul Di Filippo schreibt in der Washington Post, Gibsons Roman sei ein „not-quite-sf but not-exactly-not-sf thriller” sondern „a book that seeks to prove that to write a truly plugged-in contemporary mimetic novel is inescapably to write science fiction“ (o.S.). Und auch Dennis Lim attestiert dem Roman in TheVillage Voice, dass er die Essenz von Gibsons (bisher im Bereich der SF erschienenen) Werk voll­kommen trifft: „Pattern Recognition may be his quintessential work. The book peers so intently at the unthinkable here and now it induces something like infinite vertigo“ (o.S.). Zentrales Element der Diskussion ist hierbei die Verschmelzung von Zukunft und Gegenwart in der heutigen Zeit. Unsere technische, soziale und politische Realität hat die bislang in die Zukunft projizierte Entwicklung ein­ge­holt, könnte das Credo lauten. „[H]as any of us truly internalized the simple but sobering fact that we are all now living in the 21st century, that forever-distant, quasi-mythological realm to which the majority of science-fictional speculations were once consigned?“ schreibt Di Filippo (o.S.), es sei als ob die Implikationen unseres täglichen Lebens mit unseren Projektionen auf verzerrte Weise aufschließen.

Wenn Fredric Jameson also sagt, dass „the representational apparatus of Science Fiction, here refined and transistorized in all kinds of new and productive ways, sends back more reliable information about the contemporary world than an exhausted realism“ (384), dann kann man annehmen, dass wir in Gibsons Roman eine ideales Pro­dukt der Literatur fin­den, an dem sich unsere Gegenwart indikativ analysieren lässt. Und da der Roman darüber hinaus von der Positionierung von Kunst im neuen, 21. Jahr­hun­dert handelt, liest Jameson ihn als Blochsche Konzeption des Künstlerromans: „the unknown unrealized work of art inside itself like a black hole, the empty present of a future indeterminacy, the absent sublime within the everyday real“ (388). In dem Roman ver­handelt Gibson seine Sicht auf Kunst und Liter­a­tur, und ihr Verhältnis zur Gegenwart wird ins­besondere in den Worten des Charakters Hu­ber­tus Bigend deutlich:

We have no idea, now, of who or what the inhabitants of our future might be. In that sense, we have no future. Not in the sense that our grandparents had a future, or thought they did. Fully imagined cultural futures were the luxury of another day, one in which ‘now’ was of some greater duration. For us, of course, things can change so abruptly, so violently, so profoundly, that futures like our grandparents’ have insufficient ‘now’ to stand on. We have no future because our present is too volatile. […] We have only risk management. The spinning of the given moment’s scenarios. Pattern recognition. (Pattern Recognition 58f. )[1]

Kulturelle Zukunftsvisionen sind ein Luxus der Vergangenheit: „[O]ur present marks a transformation of, and indeed perhaps a break with, the earlier moment of postmodernism, and a call for a new kind of aesthetic appropriate to our historically original situation.“ (Wegner 187)

Somit ist Gibsons frühes Werk der Ausgangspunkt für diesen Bruch, seine Cyberpunk-Beschreibung einer möglichen Zukunft scheint auf grund­legende Weise die entstehenden kulturellen Realitäten der Postmoderne zu verkörpern, wie Wegner es für Cyberpunk SF beschreibt (vgl. 186). Und diese Einschätzung erklärt auch den Zwiespalt, in dem sich die Kritiker befanden, als sie Pattern Recognition eine Abgrenzung vom SF-Genre zusprachen, aber im Roman dennoch die Mechanismen der post­modernen SF sehr wohl noch entdeckten. Die Welt die Gibson beschreibt ist geprägt von dem „first crude inventory of the new world system“ (Jameson 385) das schon die Cyberpunk-Autoren pro­phe­zeit haben.

Gibsons neue, reale Sicht der Dinge, öffnet sich auf eine von Konsum durchdrungene, kul­turell vereinheitlichte Welt. Er zeichnet das Bild einer dezentralen, urbanen Medien- und Mar­ken­kultur, deren Globalität und Einheitlichkeit überall zu spüren ist, egal ob in Tokio, in London oder in Moskau. Seine Protagonistin Cayce ist zugleich wesentlich in dieser Welt verankert und von ihr abgestoßen. Ihr Job als „coolhunter“ (PR 2) macht es unabdingbar, sich mit den Eliten der „global informational and affective economy“ (Wegner 189) auseinander zu setzen – also mit denjenigen, die in uns Gefühle, Sehn­süch­te und Begehrlichkeiten nach den Produkten der von Bauman beschriebenen globalen Kon­sum­welt wecken: Marketingexperten, Designer, Filmemacher, Program­mier­er. In dieser Welt sind es die Marken und Namen, die jedem Gegenstand anhaften, die alles benennbar und speziell machen. Die postmoderne Realität hat aus dem Namen einen Fetisch gemacht, Eigenschaften und Qualitäten in Nominalität eingeschrieben und somit Wertung in die Marke transportiert. Gibsons Romane, von Neuromancer bis Spook Country, sind allesamt diesem Fetisch ver­fallen, und so liest Jameson auch in Pattern Recognition, das was er als „hyped-up name-drop­ping“ (386) bezeichnet. In der Romanwelt, ebenso wie in unserer, finden sich Markennamen an jeder Ecke. Cayce schreibt nicht auf einem Computer, sie bedient einen Apple Mac Cube, sie geht nicht zum Sport, son­­dern betreibt Pilates und die Beschreibung ihrer Bekleidung kann als Indiz für die post­moderne Faszination des Romans mit Benennung, Beschreibung und Bewertung gelesen werden:

CPUs for the meeting, reflected in the window of a Soho specialist in mod paraphernalia, are a fresh Fruit T-Shirt, her black Buzz Rickson’s MA-1, anonymous black skirt from a Tulsa thrift, the black leggings she’d worn for Pilates, black Harajuku schoolgirl shoes. Her purse-analog is an envelope of black East German laminate, purchased on eBay – if not actual Stasi-issue then well in the ballpark.

She sees her own gray eyes, pale in the glass, and beyond them Ben Sherman shirts and fish­tail parkas, cufflinks in the form of the RAF roundel that marked the wings of Spitfires.

CPUs. Cayce Pollard Units. That’s what Damien calls the clothing she wears. CPUs are either black, white, or gray, and ideally seem to have come into this world without human in­ter­vention. (PR 8)

Cayce’ Neigung zu unauffälliger und minimalistisch gestylter Kleidung ist ein Nebeneffekt ihres Berufes. Sie be­zeichnet sich selbst als „dowser in the world of global marketing“ (PR 2), doch die implizierte Wünschelrute, mit der sie sich auf die Suche nach zukünftigen Trends macht, ist zugleich ihre größte Stärke und ihre größte Schwäche. Sie ist nur deswegen gut in ihrem Beruf, weil sie auf Moden und Marken, insbesondere auf die grafische Umsetzung dieser in Form von Logos, physikalisch reagiert: „Though the truth […] is closer to allergy, a mor­bid and sometimes violent reactivity to the semiotics of the marketplace.“ (PR 2) Der positive Effekt dieser Sensitivität auf die Zeichen der globalen Marktwirtschaft ist, dass Cayce in der Lage ist, Trends aufzuspüren, mögliche Ideen für die Vermarktung zu identifizieren und die Logos der großen Firmen auf ihre potentielle Wirksamkeit zu überprüfen. Sie fungiert als menschliches Lackmuspapier des globalen Marketings: „What I do is pattern recog­ni­tion. I try to recognize a pattern before anyone else does.“ (PR 88) Der negative Effekt jedoch ist, dass Cay­ce unter heftigen körperlichen Reaktionen leidet, sobald sie einem Markenzeichen wie etwa dem von Benetton, Ralph Lauren oder Laura Ashley zu nahe kommt. Die Folgen sind Schwin­del, Übelkeit und Panikattacken bis hin zur Ohnmacht, wie sich an ihrer Begegnung mit einem Display der Modemarke Tommi Hilfiger verdeutlichen lässt:

[D]own here, next to a display of Tommy Hilfiger, it’s all started to go sideways on her, the trademark thing. Less warning aura than usual. Some people ingest a single peanut and their head swells like a basketball. When it happens to Cayce, it’s her psyche.

Tommy Hilfiger does it every time, though she thought she was safe now. They’d said he’d peaked, in New York. Like Benetton, the name would be around, but the real poison, for her, would have been drawn. It’s something to do with context, here, with not expecting it in London. When it starts, it’s pure reaction, like biting down hard on piece of foil. (PR 17-18)

In Cayce manifestiert sich physisch das globalisierte Dilemma: ihr ganzes Leben basiert auf dieser, unserer objektfixierten Welt der Waren. Ein Entkommen, der von Jameson definierte Widerstand gegen das System, ist unmöglich. Marken besitzen einen durch den Namen ein­ge­schrie­benen zusätzlichen Wert, dessen paradoxe Dynamik darin besteht, bereits im Moment der Erschaffung quasi überaltet zu sein. Durch die extrem geringe Halbwertzeit von Moden und Trends angetrieben, ist der zusätzliche Wert nur für begrenzte Zeit zu erhalten, und so müssen wir konstant nach immer neuen Marken und Werten suchen. Auf der anderen Seite ga­rantiert der globale Markt dafür, dass überall auf der Welt Image und Wert der Marke ge­lesen werden können und wir als Weltbürger erkannt werden. Wir brauchen uns keine Sorgen machen, dass Status und eingeschriebenes Images der Marke an regionaler Be­grenzt­heit schei­tern. Cayce ist innerhalb des Romans die ultimative Verkörperung dieser gleich­zeitigen Gefangenheit und Freiheit. Ihr Leben wird von Trends und Marken voran­getrieben, aber es ist ihr andererseits unmöglich, auf Dauer den allgegenwärtigen Auslösereizen zu entgehen und sie reagiert mit psychischem Stress und körperlichem Exzess.

Als Alternative zu dieser von Design, Logos und Marken überschwemmten Ästhetik der postmodernen Realität, in der der Roman klar verankert ist, präsentiert Gibson die Darstellung eines Kunstwerkes. Dieses Kunstwerk ist die noch nicht realisierte Zukunft, von der Jameson spricht, und in ihr manifestiert sich auch die von Wegner geforderte neue Ästhetik, die den Bruch mit der Postmoderne darstellt. Gibson präsentiert diese neue Ästhetik im Roman in Form der footage, einer Ansammlung von kurzen Filmclips, die Fans in regelmäßigen Ab­stän­den aus dem Internet fischen. Die foot­age besteht aus 135 einzelnen Clips, jeder kaum mehr als 20 Sekunden lang, denen je­doch ge­mein ist, dass sie ohne Kommentar eines Autors, ohne Indikation einer Rei­hen­folge und völ­lig ambivalent bezüglich ihrer Verortung in Zeit und Raum im Netz zu fin­den sind: „There is a lack of evidence, an absence of stylistic cues.“ (PR 23) Diese eigentümliche Abkehr von einer erkenn­baren Zuordnung zu Genre, Zeitperi­ode oder stilistische Marker ist es, die zum Erkenn­ungs­zeichen der footage wird und die Jamesons „Er­ha­benes“ repräsentiert.

Für Cayce ist gerade diese Unbestimmtheit ein zentraler Faktor für ihre Begeisterung, lässt sie doch die Abwesenheit der „semiotics of the marketplace“ (PR 2) hier einen Ruhepol von den Reizen der Markenwelt finden. Die tiefere Bedeutung der footage für Cayce liegt also dementsprechend in deren Kontrastfunktion: „[I]ts utter lack of style is an ontological relief, like a black-and-white film after the conventional orgies of bad Technicolor, like the silence of solitude for the telepath whose mind is jammed with noisy voices all day long.“ (Jameson 391)

Da diese künstlich erschaffene Undeterminiertheit der footage aus den üblichen kulturellen Erfahr­ungen heraus sticht, wird sie von ihren Fans als Besonderheit wahrgenommen, als wert­voll, und ist daher Anlass diverser umkämpfter Theorien und Interpretationen:

The one hundred and thirty-four previously discovered fragments, having been endlessly collated, broken down, reassembled, by whole armies of the most fanatical investigators, have yielded no period and no particular narrative direction.

Zaprudered into surreal dimensions of purest speculation, ghost-narratives have emerged and taken on shadowy but determined lives of their own […] (PR 24)

Hier schließt sich die Argumentation zu unserer schönen, neuen Welt, denn Gibsons virtuelle Gemeinschaften, wie das „Fetish:Footage:Forum“ (PR 4) des Romans, funktionieren ganz genau so, wie Henry Jenkins es für seine convergence culture benennt. In dem Forum werden diverse Theorien über mögliche zeitliche oder stilistische Einordnungen ebenso diskutiert wie Spekulationen über die Erschaffung des Kunstwerks, ohne jemals einen Konsens zu erlangen. Diese Auseinandersetzungen unter den Fans haben die footage selbst zu einem Kult- und Kul­tur­artefakt werden lassen, dass sich nur über Interaktion erschließen lässt. Ohne die Fans wäre das Kunstwerk nur eine arbiträre Aneinanderreihung von Filmclips, doch durch die Dis­kus­sion, die aktive Beteiligung und den interpretativen Prozess der Anordnung gelingt es den Fans sich vom reinen Konsumentendasein zu befreien und die Dualität von Autor und Leser aufzubrechen. Christopher Palmer beschreibt die footage als kollektives Werk, das zwar von einem einzelnen Künstler ausgeht, aber ohne die Beteiligung Anderer nicht mit soviel Inhalt resonieren würde: „It is part of the postmodern culture of editing, remixing, sampling. [… The fans] must be as necessary to the work of the art as is the wounded Nora, who is merely at the beginning of a series of widening circles of production, distribution, reception, discussion.“ (479)

Für Henry Jenkins sind es zentral die neuen, digitalen Medien, die es dem Konsumenten er­mög­lichen, „to archive, annotate, appropriate, and recirculate media content in powerful new ways“ (17f.). Jenkins Idee, eines veränderbaren, durch den Nutzer mit erschaffenen Artefaktes, findet sich auch in dem von Espen Aarseth speziell für Texte formulierten Konzept des ergodischen Kunstwerks wieder, als das ich die footage hier bezeichnen möchte. Laut Aarseth handelt es sich hierbei um „a type of discourse whose signs emerge as a path produced by a non-trivial element of work.“ („Aporia” 32) Der Begriff ‚ergodisch’ ist eine von Aarseth vorgenommene Über­tra­gung aus der Physik und bezieht sich auf die ursprüngliche Wortbedeutungen im Griechi­schen: ergon (Arbeit) und hodos (Pfad). Das von ihm beschriebene Kunstwerk ist dadurch ge­kenn­zeichnet, dass es mit einer Informations-Feedback-Schleife ausgestattet ist, die eine Zen­tra­lität des Konsumenten hervorhebt: „it also centers attention on the consumer, or user, of the text, as a more integrated figure than even reader-response theorists would claim“ (Cybertext 1)

Die Position des Lesers/Nutzers rückt also bei ergodischen Kunstwerken stark in den Vorder­grund und verlangt von ihm eine nicht nur auf das Verstehen bezogene Arbeitsleistung. Es liegt in der einen Weg beschreitenden Arbeit des Lesers, eine Zeichenkette zu erzeugen, die dann erst den Text in einer seiner möglichen Lesarten entstehen lässt. Der Leser wird zum Au­tor der von ihm erarbeiteten Interpretation, wie David Bolter in Writing Spaces: The Computer, Hypertext, and the History of Writing über die Funk­tionsweisen von Internetforen und die darin verschwimmenden Kategorien von Autor und Leser berichtet. Für Bolter führen etwa Faktoren wie Einfachheit der Beteiligung, Schnelligkeit der Ver­brei­tung und der unkomplizierte beziehungsweise zum Teil nicht markierte Einsatz von Zita­ten dazu, dass der Übergang zwischen den Positionen nicht klar definiert werden kann. Ähn­lich sieht dies auch Martha Woodmansee, die in der Computertechnologie eine Auflösung jener Kon­­tu­ren sieht, „die für das Überleben der Fiktion von modernem Autor als alleinigem Schöp­fer von einzigartigen und originären Werken essentiell wären“ (309). Es lässt sich also zu­min­dest in Hinsicht auf digitale Medien feststellen, dass das Konstrukt Autor sich verändert hat und mit dem Konstrukt Leser zumindest teilweise zusammenfällt.

In Bezug auf Pattern Recognition stellt sich also die Frage nach der Bedeutung dieser Beteili­gung am Autorprozess für die Nutzer. Für Cayce und die anderen footageheads besteht die Be­schäf­­tigung mit Sinn, Inhalt und der Erschaffung des Kunstwerkes in der mit ihr verbun­denen Zugehörigkeit zum kreativen Prozess und zur virtu­ellen Gemeinschaft des „Fetish:­Footage:­Forum.“ Dort wo bislang Autorschaft dazu dien­te, eine ästhetisch-ideo­lo­gische Iden­tität als Kennzeichen von Individualität oder Origi­na­lität zu er­schaffen, ver­wan­delt das neue, hybride Autorkonstrukt die Beteiligten in ein kreati­ves Kol­lek­tiv. Dieses Kol­lek­tiv ist es, das Phillip Wegner als „emergent global form of community“ (190) be­zeich­net, die ein be­stim­mtes kulturelles Zugehörigkeitsgefühl vermittle. Cayce bestätigt diese Sichtweise ein­drücklich: „It is a way now, approximately, of being at home. The forum has become one of the most consistent places of her life, like a familiar café that exists some­how outside of geo­gra­phy and beyond time zones.“ (PR 4-5)

Auch Henry Jenkins schreibt seinen virtuellen Gemeinschaften neben der Funktion einer Beteiligung an Autorschaft noch eine weitere Eigenschaft zu, die in ihrer Mechanik zu Wegners Zugehörigkeit erschaffenden globalen Gemeinschaften beiträgt. Aufgabe der virtu­ellen Gemeinschaften bestehe, laut Jenkins, auch in der kollektiven Beschaffung von Infor­ma­tionen über ein bestimmtes kulturelles Artefakt. Das moderne, konvergierende Kunstwerk, be­stehend aus Einzelteilen und einem Puzzle ähnlich über diverse Medien­platt­formen ver­streut, fordere den Konsumenten heraus, die anfallende kulturelle Verständ­nis­arbeit gemein­schaftlich zu begehen. Hierzu forme sich, gefördert durch das Internet, auf glo­bal­er Ebene eine Kultur des Wissens, deren Aufgabe einerseits in der Ansammlung von Informationen liege, andererseits in der Formung einer kollektiven Intelligenz, deren akkumuliertes Wissen weit über den Wissenshorizont eines Einzelnen hinausgehe (27ff.). Das „Fetish:Footage:Forum“ ist eine solche virtuelle Gemeinschaft, deren kul­turelles Artefakt, die footage, der kollektiven Intelligenz bedarf, um zu einem verständlichen Ganzen zu­sam­men­gesetzt zu werden.

Jenkins und Wegner beschreiben diese Gemeinschaften, deren Funktionalität und Reiz für die Beteiligten darin besteht, dass sie eine Ersatz-Zugehörigkeit erschaffen, die nicht auf Nation, Religion oder Familie begründet ist: „[T]hese new communities are defined through voluntary, temporary, and tactical affiliations, reaffirmed through common intellectual enterprises and emotional investments“ (Jenkins 27). Zugehörigkeit in der footage-Fangemeinde ist selbst gewählt und durch kulturelles Interesse definiert: „Footage­heads seem to propagate primarily by word of mouth, or, […] by virtue of random exposure, either to a fragment of video or to a single still frame.“ (PR 55) Wer nicht bestimmte Wesenszüge besitzt: Neugier, ästhetisches Empfinden oder einen Antrieb zur Suche nach dem Muster im Chaos, der wird nicht in die Gemeinschaft aufgenommen. Durch diese Hermetik bleibt die Gemeinschaft identitätsstiftend, Zugehörigkeit bleibt bedeutsam und identifiziert ein Mitglied als „true believer.“ (PR 67) Es wundert also nicht, wenn Cayce die Bezeichnung Hobby für ihre Zugehörigkeit zur footage vehement zurückweist: „Cayce has never been a person who had hobbies. Obsessions, yes. Worlds. Places to retreat to.“ (PR 97)

Im Handlungsrahmen des Romans ist dieser Rückzugsort aber durch die Konsum- und Mar­ke­ting­gesellschaft bedroht. Der bereits zitierte Werbe-Mogul Hubertus Bigend, Begrün­der der Agentur Blue Ant, ist auf die footage aufmerksam geworden und sieht in ihr einen ge­ni­a­len Marketing-Coup:

My passion is marketing, advertising, media strategy, and when I first discovered the footage, that is what responded in me. I saw attention focused daily on a product that may not even exist. […] The most brilliant marketing ploy of this very young century. And new. Somehow entirely new. (PR 67)

Seine Sichtweise auf Kreativität und Konsum repräsentiert im Roman die neue Weltordnung und damit einen Angriff auf die Unberührtheit des Erhabenen im Alltäglichen, um Jameson hier zu paraphrasieren. Für Bigend verschwimmen die Grenzen von Kunst und Konsum, ist das Kunstwerk bereits in der Realität gefangen: „Far more creativity, today, goes into the marketing of products than into the products themselves […] In that regard alone, the footage is a work of proven genius.“ (PR 69) Kunst benötigt Werbung, um wahrgenommen zu werden und Werbung wird dank der Kreativität ihrer Macher zur Kunstform. In unserer Realität sind diese Grenzen längst verschwommen, Filmemacher wie David Fincher oder Michel Gondry sind Stars des kommerziellen 30-Sekunden-Spots und die Ästhetik von Musikvideos, Wer­bung und Hollywood-Filmen gleicht sich immer mehr an.

Im Roman gelingt es Cayce am Ende, die Erschafferin der footage ausfindig zu machen. Was Cayce jedoch nach Abschluss ihrer Suche bleibt, ist die nüchterne Beobachtung, dass die Entschei­dung über die kulturelle Zukunft nicht mehr in ihren Händen ist. Da sitzt die Elite der neuen, digitalen Welt gemeinsam am Tisch und diskutiert die Zukunft des Produktes footage. Bigend und der russische Oligarch, dessen Nichte die footage herstellt, bleiben in Cayce’ Wahr­­nehmung zurück, im einvernehmlichen Gespräch vertieft. Und am Ende des Romans sind es die Macher der Globalisierung, die auf CNN zu sehen sind: „[Bigend] was between some Russian zillionaire and your Secretary of the Interior.“ (PR 365) Philip Wegner sieht in dieser Runde das Sinn­bild unserer neuen Weltordnung, die Repräsentation der globalisierten kulturellen Ein­heit, die auch die alte Welt (hier repräsentiert durch den Innenminister) mit ein­schließt. In Pattern Recognition bleibt es letztendlich offen, was diese Weltordnung mit der footage zu tun gedenkt, aber die Tendenz ist klar ersichtlich. Cayce’ Worte hallen im Roman nach; Als sie erklärt, was mit den Trends geschieht, die sie aufgespürt hat, sagt sie: „she has no doubt that commodification will soon follow identification“ (10).

Gibson selbst greift diese Worte und die in ihnen liegende Drohung wieder auf, allerdings erst in seinem aktuellsten Roman Spook Country. Dort begegnen wir Hubertus Bigend wieder als er der Protagonistin Hollis erklärt, wie Blue Ant zu erfolgreichen Ideen kommt:

“I’ve learned to value anomalous phenomena. Very peculiar things that people do, often secretly, have come to interest me in a certain way. I spend a lot of money, often, trying to understand those things. From them, sometimes, emerge Blue Ant’s most successful efforts. Trope Slope, for instance, our viral pitchman platform, was based on pieces of anonymous footage being posted on the Net.”

“You did that? Put that thing in the background of all those old movies? That’s fucking horrible. Pardon my French.”

“It sells shoes.” He smiled. (105f.)

Bigends Worte suggerieren eine erfolgreiche Vermarktung der footage, aber es ist Hollis’ Reaktion, die uns das Gefühl vermittelt, das enigmatische Kunstobjekt sei zu einer Ware ver­kommen, hätte ihren Reiz und ihre Bedeutung verloren. Und somit ist der erfolgreiche Ab­schluss von Cayce’ Suche gleichzeitig auch der Verlust der Identitätsstiftenden Gemeinschaft. Cayce’ Zugehörigkeit hat sich durch das Insiderwissen gelöst. Sie kann nicht mehr an dem kreativen Prozess teilnehmen, ist aus der Feedback-Schleife ausgestiegen. Sie hat das Wissen der kollektiven Intelligenz hinter sich gelassen und kann der Beschäftigung mit dem ergodi­schen Kunstwerkes keinen Sinn mehr abgewinnen. Zudem hat sich durch den ernüchternden Einblick in die alles erobernde Welt der Marken gezeigt, dass selbst Cayce’ Rückzugsort nicht dem Druck des Systems standzuhalten vermochte.

Dieser Druck, die Vereinnahmung der Kunst durch den Kommerz, ist es auch, der letztlich Klarheit über den Realitätsanspruch der Forumsgemeinschaft mit sich bringt. Die Gemein­schaft beruft sich auf ein aus dem Konsumrahmen enthobenes Kunstwerk, dass es als solches aber gar nicht gibt. Sie produziert stattdessen immer neue, mögliche Versionen eines vermu­te­ten Originals. Die ursprünglich fragmentarischen und völlig ohne Kohärenzanspruch erschaf­fenen Medieninhalte werden erst durch die Fans zur Kunst, durch deren Möglichkeit die In­halte zu archivieren, zu ergänzen, anzu­passen, und neu in Umlauf zu bringen. Hier resoniert der Roman mit Jean Baudrillards Konzept des Simulacrums und verweist somit mittels des Kunstwerkes auf die Künstlichkeit der globalen Welt. Folglich wird Christopher Palmers Analyse der Kunst der footage als Gemeinschaftsprodukt der Fans noch deutlicher, denn ohne diese wäre sie als Kunst überhaupt nicht existent. Die ästhetische Qualität wird den ur­sprüng­lich als CCTV aufgenommenen Bildern zwar durch Nora medial eingeschrieben, aber erst durch die kritische Auseinandersetzung der Fans können mögliche Inhalte und Be­deu­tungen zu Tage gefördert werden. Bigends Vermarktungsanspruch ist somit nur die letzte Konse­quenz der Realität, in der die footage entsteht. Die subkulturelle Gemeinschaft wird von der Konsumwelt entdeckt, und am Ende durch ihren Einsatz zum Verkauf von Markenschuhen in die globale Marketingwelt überführt. Widerstand gegen das globale System ist unmöglich. Ähn­liches passierte in der Realität schon Jahre zuvor mit subkulturellen Phänomenen wie Punk, Grunge oder auch Techno, die allesamt als Gegenbewegungen zur Massen­kultur be­gan­nen und sich bald einer Kooptierung durch eben diese gegenüber sahen: „commodification will soon follow identification“!

3. Die Welt als Leinwand

Fredric Jamesons Worte von der Sinnlosigkeit eines Widerstandes gegen das globale System der Marketingwelt scheinen sich in Gibsons Pattern Recognition bestätigt zu haben. Die neue Ästhetik für eine neue Welt wird im Roman Opfer des Marketings, die Erlösung von Kom­merz und Globalisierung wird vom System kurzerhand assimiliert. Was dem Roman aber viel­leicht gerade deswegen gelingt ist die Beschreibung des historischen Knotenpunktes, an dem wir uns befinden. Die Beschreibung einer realen Welt, einer Welt in der die postmoderne Faszination der Marken nicht abgeebbt ist, in der sich aber die Verhältnisse von Kunst, Lite­ra­tur und Kommerzialität verändert haben. In ihrem New York Times Artikel schreibt Lisa Zeid­ner, dass Gibson schon immer behauptet hätte die Zukunft vorauszusagen sei haupt­säch­lich der Ver­such, nicht zu blinzeln während man die Gegenwart betrachtet. Es bleibt also nach wie vor die Frage offen, ob es Gibson gelungen ist mit der Beschreibung der footage einen Trend zu benennen, ob er, in der alten Form gefangen, dennoch in der Lage war, ein rea­les Muster in der Kunst zu erkennen. Gibt es heutzutage Kunst, die der neuen convergence culture entspricht? Die virtuellen Gemeinschaften zum Vorschein bringt; die sich am Er­schaffensprozess beteiligen, die kollektive Intelligenz entwickeln und so dem Werk neue Bedeutungsebenen einschreiben?

Als ein Kunstwerk, das dieser neuen Ästhetik entspricht, kann man sicherlich das 2007er Al­bum Year Zero der US-Industrial-Band Nine Inch Nails (NIN) und das von der Marke­ting­­firma 42Enter­tainment zum dem Album erschaffene, gleichnamige Alternate Reality Game zählen.[2] Ann Powers schreibt in der Los Angeles Times über Year Zero, dass es sich hier­bei weder um eine Musikveröffent­lichung mit zusätzlichen im Internet zu findenden Ex­tras han­delt, noch um ein Computerspiel, dessen Soundtrack Trent Reznor, der kreative Kopf der Band, geschrieben habe (wie etwa zum Spiel Quake):

’Year Zero’ is a total marriage of the pop and gamer aesthetics that unlocks the rusty cages of the music industry and solves some key problems facing rock music as its cultural dominance dissolves into dust. […] At the very least, Trent Reznor is still creating chaotic rock ‘n’ roll. And that’s more than marketing; it’s pioneering art.

Mit dem Album als zentralem, kulturellem Artefakt entwickelt das Spiel die vom Album evo­zierte Welt weiter und schreibt ihr Inhalte ein, die das Album nicht zu transportieren vermag. Reznor hat die Songs aus der Sicht einzelner fiktionaler Stimmen geschrieben, die nur sub­jek­tiv gefärbte Erfahrungen der Year Zero-Welt vermitteln, und benötigte daher einen Zusatz, um eine die Songs umgebende Welt zu er­schaffen:

I had a record that would make sense to me but no one else would ever know what it was because there was no narrative. It’s modular, it’s a collection of snapshots. These were glimpses of a place. Maybe with liner notes I could communicate some of it, but how do you get liner notes in 2007? [3]

Statt Linernotes zu verwenden, hat sich Reznor an die Marketingspezialisten von 42Enter­tainment gewendet und mit ihrer Hilfe ein ARG entwickelt, das NIN-Fans in die Welt von Year Zero eintauchen lässt. Diese Welt lässt sich wie folgt charakterisieren: Year Zero spielt im Jahre 2022, in einer Zeit in der die Bürgerrechte nur noch hohle Phrasen sind, die Be­völ­ker­ung eingeschüchtert ist und ein christlich-fundamentalistischer Polizeistaat die USA re­giert. Die Medien-, Pharma- und Rüstungskonzerne haben sich mit den Machthabern arran­giert und unterstützen das System, das sich kontrollierend über die Welt spannt. Darüber hin­aus geht das System im vermeintlichen Kampf gegen den Terror rigoros ge­gen jegliche Form freien Denkens oder oppositionellen Handelns vor. Die Begründung für lückenlose Über­wach­­ung, Bewusstseinskontrolle durch staatliche sanktionierte Drogen im Grundwasser oder die Freigabe von Forschung an biologische Kriegsführung ist immer die Sicherung der Na­tion gegen unpatriotisches und freiheitsfeindliches Gedankengut. Furcht und Misstrauen als Ba­sis des menschlichen Miteinanders versetzen die Bevölkerung in Starre und dominieren somit die Gesellschaft dieser Zukunft. Kunst, als Ort für neue Ideen, oppositionelle Haltung oder gar revolutionäre Initialzündung wird vom Staat mit aller Macht unterdrückt. Year Zero ist eine Dystopie Orwellschen Formates, deren inhaltliche Analyse, wenn sie auch sicherlich lohnens­wert wäre, an dieser Stelle nicht erbracht werden kann. In seiner Form und insbesondere auch in Bezug auf die soziale Funktion, die das Spiel erfüllt, kann man Year Zero jedoch in Relation zu der von Gibson be­schrie­benen neuen Kunst stellen. Year Zero ist ein ergodisches Kunstwerk, das durch die Be­tei­ligung seiner Nutzer mit einer zusätzlichen Bedeutungsebene versehen wird, und das daher zu einer virtuellen Gemeinschaft geführt hat, die als identitäts­stiftend verstanden werden kann. Doch Year Zero geht dabei aber sogar noch einen Schritt weiter, wie auf der Internet­seite von 42Entertainment seit Abschluss des Spieles in Form einer werbewirksamen Zusam­men­fassung zu hören ist: „Trent Reznor’s concept album Year Zero. A vision of a dark future of endless holy war and environmental collapse. But, what if you could do more than just listen to this grim vision? What if you could live in it, experience it? What if Year Zero was now?”[4]

Year Zero ist nicht nur, wie die footage, ein aus einem Medium bestehendes ergodisches Kunst­­werk, das eine virtuelle Gemeinschaft erzeugt. Es geht darüber hinaus, auf der einen Seite durch die unterschiedlichen verwendeten Medien, aber auf der anderen Seite auch durch einen bewussten Bruch der fiktionalen Ebene. Das Kunstwerk tritt aus der virtuellen Ebene her­aus und er­mög­licht eine erlebbare Erfahrung in der realen Welt.

Die Verwendung unterschiedlicher Medien ist ein wesentlicher Teil von Henry Jenkins Kon­zept des „transmedia storytelling“ (93), mit dem er die strukturelle Veränderung neuer Er­zähl­for­men in digitalen Medien gegenüber herkömmlichen (z.B. des Romans) be­schreibt. Wie be­reits erwähnt, sieht Jenkins in der convergence culture unterschiedliche Aspekte auf ei­nen Paradigmenwechsel hinarbeiten, die zu einer Wandlung der sozialen Systeme führen kann. Für ihn ist es insbesondere das Aufbrechen der Medienmonopole als Erzeuger von Er­zähl­ungen, und damit die Ermächtigung des Einzelnen, seinen Beitrag an der Narration zu lei­sten, die dazu führt, dass alternative Denkmuster Beachtung finden können. In Jenkins trans­medialem Erzählen finden sich viele Elemente des ergodischen Kunstwerkes wieder, ergänzt um den Aspekt der multiplen Medienplattformen, die diese neue Erzählform nutzt. Wichtig­ster Aspekt ist dabei eben diese Zerstückelung der Inhalte auf die unterschiedlichen Medien, de­ren eigenständige Beiträge synergetisch auf einander aufbauen und erst durch die Arbeits­leistung des Lesers/Nutzers kombiniert werden, um eine vollständige Erzählung zu formen. Da diese Inhalte wie im Falle von Year Zero in Form eines Puzzles oder einer virtu­ellen Schnitzel­jagd gefunden und zusammengefügt werden müssen, kann man bei trans­medi­a­len Erzäh­lungen durchaus von ergodischer Kunst sprechen, denn ohne die kollektive Arbeits­leistung der Spieler ist ein Erfassen der Inhalte nicht möglich. Die Parallelen zur footage, die eben­falls aus Bruchstücken besteht und durch kollektive Arbeit zusammengesetzt werden muss, sind offenkundig.

Da ARGs Kunstwerke von zeitlicher Begrenzung sind (von der Erschaffung bis zur Lösung des Spiels) und danach nicht mehr ‚live’ erlebt werden können, kommt ihnen oftmals im Nach­­hinein eine Qualität zu, die Janet Murray mit der „encyclopaedic capacity“ (253) digita­ler Me­dien bezeichnet. Im Rahmen der Entstehung von Fanforen – Gibsons „Fetish:­Footage:­Forum“ nicht unähnlich – wird das Wissen der Spieler zusammengetragen und somit die be­reits mehr­fach erwähnte kollektive Intelligenz dazu genutzt, dem Spiel eine Bedeutungsebene hin­zu­zu­fügen. Es sind die Interpretationen der Fans, und die kollektive Verständnisarbeit, die das Spiel überhaupt erst vorantreiben. Und es sind meist auch nur diese von Fans entwickel­ten Texte, die zum Gesamt­narrativ beitragen, und die dem Gros der Beteiligten den tat­säch­lichen Überblick über die während des Spiels verstreuten und zeitlich begrenzt erfahrbaren In­halte vermitteln. Somit erklärt sich auch, warum Jenkins transmediales Erzählen ebenfalls mit einer hybriden oder kollektiven Autorfunktion versieht.

In Year Zero lese ich daher eine Reflektion des von Gibson beschriebenen Phänomens der footage. Sie stellt ohne Frage ein Kunstwerk der neuen, globalen Zeit dar und befindet sich in ihrer Form, über diverse Medien hinweg, und Funktionsweise klar am derzeitigen historisch-spezifischen Moment. Ohne die Nutzbarmachung des kreativen Potentials der Fans durch die Feedback-Schleife des Spieles wäre das Album ein relativ hermetisches und schwer zu entzif­fern­des Konzeptalbum. Texte und Musik, die zwar in kurzen subjektiven Ausschnitten ein dys­topisches Bild zeichnen, stünden ohne jegliche Erklärung und wären für den Groß­teil der Fans inhaltlich nicht zu entschlüsseln, wie Reznor selber formuliert hat. Aber die aus­führ­liche Beschäftigung mit dem ergodischen Werk der Webseiten, die vom Fan daran verrichtete Ar­beit und die durch das Spiel ergänzten Inhalte verleihen dem Kunst­werk zusätzl­iche Bedeu­tung. Insbesondere die Auseinandersetzung der Fans mit der Botschaft des Kunst­werkes und die analytischen Diskussionen im Netz erinnern stark an das von Gibson beschriebene „Fetish:­­Footage:­­Forum.“

Um aber zu verdeutlichen, wie diese Arbeit erfolgt, und welche Weiterentwicklung Year Zero gegenüber der fiktiven footage tatsächlich darstellt, ist es sinnvoll, kurz auf die Chronologie des Spielbeginns einzugehen. Das Album Year Zero wurde am 13. April 2007 veröffentlicht, das ARG begann jedoch bereits am 12. Februar 2007, als Fans auf einem Konzert der Band in den Tourdaten des zur Tour gehörenden T-Shirts einige hervorgehobene Buchstaben erkann­ten, die zusammengesetzt zur Seite iamtryingtobelieve.com führten. In den folgenden Tagen es den Spielern weitere Hinweise, Webseiten und Musikstücke zu entdecken, die auf die Welt von Year Zero hinwiesen. Die speziell für das Spiel entwickelte Optik aller spiel­imma­nenten Seiten sorgte im weiteren Verlauf zu einen maßgeblich Anteil für die Wieder­erkenn­barkeit der Year Zero-Seiten und damit für die Kohärenz des Spiels. Alle Seiten des Spiels haben eine starke optische Zerstückelung, einen digitalen Bruch, gemein. Daher ist es für ein Verständ­nis oder eine Interpretation der Seiten notwendig, als Spieler diverse Entschlüssel­ungen (zum Bei­spiel durch copy&paste-Verfahren in einen Texteditor) oder Manipulationen der Inhalte vor­zunehmen, um eine Bedeutung zu erkennen und dem kollektiven Wissen der virtuellen Ge­meinschaft zuführen zu können. Wichtig zu bemerken ist dabei, dass im Gegensatz zur footage, das Kunstwerk Year Zero seine Elemente sowohl im virtuellen Raum als auch in der ontologischen Realität verstreut. Hinweisen konnten nicht nur in digitaler Form, als Web­seiten, Musikdaten, Frequenzanalysen oder Videofiles, sondern auch in Form von Memory Sticks, Telefonnummern, öffentlicher Kunst, Graffiti, T-Shirts, oder Aufklebern ihren Weg zu den Fans finden.

Dank dieser Verzahnung von realen Hinweisen und virtuellen Spuren förderten Spieler eine erhebliche Menge an Inhalten zu Tage, die nun archiviert, ergänzt, interpretiert, angepasst und dank enzyklopädischer Kapazität des Medium Internet auch an Nicht-Spieler und jenseits des zeitlichen Limits in Umlauf gebracht werden konnten. Gerade die von den Spielern zu­sam­men­getragenen Wikis, Zeitleisten, Glossare und Interpretationsnotizen sind in ihrer Text­struk­tur eben nicht narrativ, sonder vielmehr ein enzyklopädisch zusammengetragenes ‚Welt­wis­sen’ über Year Zero. Das gemeinschaftliche Narrativ, das somit durch Year Zero entsteht, ist also nicht eine ein­zelne Geschichte, sondern eine mehr oder weniger vollständige fiktiven Zeit­linie der sozio-pol­itischen Entwicklung der USA von 2007 bis 2022.

Und hier setzt der wichtigste Aspekt des Year Zero ARG an, der klar macht, dass Gibson mit der footage zwar einen Trend erkannt hat, dass er aber doch nicht die konzeptionelle Weite gesehen hat, die derartige virtuelle Gemeinschaften bieten. Anstatt sich auf die produzierten Inhalte der neuen digitalen, globalen Medienwelt zu verlassen, nutzt das Spiel wie bereits erwähnt auch die reale Welt, um den Spieler nicht nur imaginativ in die Fiktion zu ziehen. Eine Besonderheit des Spiels ist, dass es eine Auflösung der Ebenen von Fiktion und Realität zum zentralen Moment des Kunstwerkes macht. Der Ausspruch „This is not a game“, der erst­mals vom Spiel The Beast benutzt wurde, ist hierfür synonym geworden.[5] Im Falle von Year Zero war das Spiel so konzipiert, dass einige Fans der Brotkrumenspur einige Tage nach Release des Albums bis zu einem geheimen Konzert folgen konnten. Auf diesem Kon­zert kam es dann zum Höhepunkt der Verschmelzung von Fiktion und Realität, als nach nur sechs Songs der Band ein Polizei-Team mit Maschinenpistolen den Raum stürmte und die er­schreckten Fans unter „Beschuss“ nahm.

Dieser inszenierte Höhepunkt des Spiels hatte im Sinne der virtuellen Gemeinschaften und ihrer sozialen Funktionen einen enormen Wert. Nicht nur, dass die Gemeinschaft freiwillige, temporäre und taktische Zusammengehörigkeit bietet, die nötig ist, um sich kollektiv mit den Inhalten des Spieles auseinanderzusetzen. Zusätzlich entsteht durch die intellektuelle Aufgabenstellung, also durch die Notwendigkeit der Interpretation der Ereignisse, eine starke Bindung an die Gruppe. Diese ist in besonderem Maße wichtig für Mitglieder, die in geografisch entfernten Regionen leben. Hinzu kommt eine emotionale Investi­tio­n für alle, die am Event teilgenommen haben und somit in die Elite der NIN-Fans befördert wurden. Die gemeinsam erlebte Razzia wurde zum Initia­tions­ritus der neuen Gemeinschaft. Aber auch allen anderen Spielern bot Year Zero mittels Teilnahme eine Gele­gen­heit zur Gemein­schafts­bildung. Die gemein­same erfahrene Neugier, die Frustration vor schier unlösbaren Puzzeln zu stehen und der Erfolg diese zu lösen, und das kommunale Ent­rätseln der fiktionalen Welt sind für alle Spieler emotional bindend.

Letztlich bietet Year Zero, ebenso wie die footage, noch weitere Möglichkeiten zur aktiven Teilnahme am kreativen Prozess. In dieser haben die Macher des Spiels eine Besonderheit der utopischen Imagination verwirklicht, die einen Rückbezug der fiktiven Zukunft auf die reale Gegenwart zulässt. Fredric Jameson schreibt über die zeitliche Struktur von Science Fiction, dass diese nicht existiere, um uns Bilder der Zukunft zu vermitteln, „but rather to defamiliarize and restructure our experience of our own present“ (Jameson 286). Und eben diese Neustrukturierung ist es, die auch Year Zero zu Grunde liegt, expliziert durch die Internet-Seite OpenSourceResistance.net, die in ihrer Durchlässigkeit eine Brücke zwischen Realität und Fiktionalität darstellt. Erkennbar an der digital einwandfreien Optik, dient die Seite der aktiven und direkten Beteiligung der Leser an der Autorschaft des Year Zero-Universums (im Gegensatz zur metakommunikativen und in­ter­­pre­tativen Autorschaft durch Wikis und Foren). Fans können hier, als Mitglieder des ‚Wider­­standes’ gegen die mögliche Zukunft des Year Zero anschreiben. Ihre eigenen Beiträge werden dann mit Hilfe der Website ver­öffent­licht und gehen somit in den Kontext des Spiels ein, wie auf der Website von 42Entertainment deutlich wird:

Making a choice: to join the fight and not remain apathetic in a troubled world. This resistance movement gained momentum, over three and a half million took part. The music was the core of Year Zero. […] The songs were weapons of the resistance. Nine Inch Nails and fans across the world together fighting against this dark future. That was Year Zero.[6]

Eine solche Aussage ist als Aufruf zu verstehen, dem vorherrschenden sozio-poli­tischen System kritisch zu begegnen. Sie ist die Entstehung des utopischen Momentes in der gegen­wärtigen Realität und vermag dreieinhalb Millionen Menschen innerhalb des Spiels zum Han­deln zu bewegen. In ihr spiegelt sich die Hoffnung, Jamesons Resignation vor dem glo­balen System sei voreilig gewesen und die spielerische Beschäftigung mit der Dys­topie möge sich in einen Impuls zum realen Handeln verwandeln.

Doch genau hier wird dann wieder, wie im Roman, die Künstlichkeit der Identität und der Gemeinschaft offensichtlich. Denn das Spiel Year Zero ist ein eben auch ein Marketing­instrument, das dem Verkauf des Albums Year Zero dient, und somit ein Teil des globalen medialen Systems. Auch wenn der fiktionale Staat der USA im Jahre 2022 die Musik der Nine Inch Nails unter ‚Beschuss’ nimmt, so ist der werbewirksame Auftritt heutzutage alles andere als subversiv; NIN gehören immerhin zu den erfolgreicheren Rockbands der Zeit. Das Spiel mag sich zwar mit systemfeindlichen Inhalten schmücken, nutzt aber zumindest zum Teil die angeprangerten Strukturen. Year Zero erschafft eine Subkultur, oder bedient zu­min­dest eine bereits bestehende, nur um sie im gleichen Atemzug wenigstens teilweise an das Sys­tem zu verkaufen; das Label der Band, Interscope, ist Teil des Medien­im­peri­ums von Vivendi Uni­versal, einer der fünf größten Medienfirmen der Welt. Interessant erscheint, dass Reznor diese Problematik erkannt hat, und sich für die beiden nachfolgenden Alben Ghosts und The Slip dafür entschieden hat, die Vermarktung durch Universal zu unterbinden und die Alben für einige Monate exklusiv im Internet, in Auszügen sogar kostenlos, anzubieten.

Auch das Spiel selbst steht in diesem Zwiespalt von Kunst und Kommerz. Denn einerseits sind alle seine Bestandteile (außer der physischen Produkte wie T-Shirts, CDs oder Konzert­karten) kostenlos im Internet erhält­lich und repräsentieren durch die starke Beteiligung der Spieler am Autorprozess des ARGs klar die positiven Potentialitäten, die Jensen oder Jenkins digitalen Medienformen zuge­sprochen haben.

Auf der anderen Seite ist das Spiel von 42Entertainment erschaffen worden, einer Marke­tingfirma, die nach eigenen Aussagen die Welt als ihre Leinwand sieht und dort, also auf der Welten-Leinwand, ihre kreative Werbung aufmalt.[7] Somit ist das Spiel eindeutig eine künst­lich erschaffene und von außen gesteuerte virtuelle Realität, die eben auch die von Bauman beschrieben Begehrlichkeiten weckt. Die Betreiber von 42Entertainment sind also das reale Pen­dant zu Bigend und dem russischen Oligarchen, sie sind die Elite der neuen Weltordnung. Sie haben das kreative Potential des neuen Mediums entdeckt und nutzen es, um ebenso erfolg­reich ein Produkt zu verkaufen. Nur dass das Produkt nicht aus Sport­schu­hen sondern einem Musikalbum besteht. Wie es Bigend in Pattern Recognition formuliert hat, steckt in der Werbung wohlmöglich mehr Kreativität als in dem Produkt, das sie bewirbt. Die Grenzen zwischen Konsum und Kunst sind hier bereits verschwommen, so wie es Gibson im Roman (und seinem Nachfolger Spook Country) beschrieben hat. In einer extremen Interpretation ist eine Zugehörigkeit zur OpenSourceResistance letztendlich also nur Beweis dafür, dass es der medialen Konsumgesellschaft gelungen ist, die kreativen Prozesse der Kunst so nahtlos zu assimilieren, dass Widerstand im Jameson­schen Sinne tatsächlich zweck­los ist. Und Gibson hat dem Namen seines Romans alle Ehre gemacht und in den Entwick­lun­gen unseres histori­schen Momentes einige Muster erkannt, die seltsam anmuten lassen in unserer schönen, neuen Welt: „The world, Gibson notes repeatedly during our interview, is weird enough without needing to invent anything.” (Leonard o.S.)

Bibliografie:

42Entertainment, LLC. “Year Zero Case Study”. <http://www.42entertainment.com/­yearzero/> Pasadena, 2008. Letzter Zugriff 12.08.2008

Aarseth, Espen J. “Aporia and Epiphany in Doom and The Speaking Clock: The Temporality of Ergotic Art.” Cyberspace Textuality: Computer Technology and Literary Theory. Hg. Marie-Laure Ryan. Bloomington: Indiana University Press, 1999. 31-41.

—. Cybertext: Perspectives on Ergodic Literature. Baltimore: Johns Hopkins UP, 1997

Baudrillard, Jean. Simulacra and Simulation. Übers. Sheila Faria Glaser. Ann Arbor: U of Michigan P, 2007 [1994].

Bauman, Zygmunt. Globalization: The Human Consequences. New York: Columbia University Press, 1998.

Bolter, David. Writing Spaces: The Computer, Hypertext, and the History of Writing. Hillsdale: Erlbaum, 1991

Boucher, Geoff. „Trent Reznor’s ‘Year Zero’ may be an HBO Series“ Los Angeles Times Online Blogs: Hero Complex. 05.08.2008. <http://latimesblogs.­latimes.com/­herocomplex/­2008/08/trent-reznor.html> Letzter Zugriff: 12.08.2008

Bruhn Jensen, Klaus. “‘Communicating Models’ : The Relevance of Models for Research on the Worlds of the Internet.” Media in a Globalized Society. Ed. Hjarvard Stig. vols. Copenhagen: Museum Tusculanum Press, 2003. 257-89.

Di Filippo, Paul. „Prophets and Losses.“ Washington Post. 02.02.2003. BW04.

Gibson, William. Pattern Recognition. New York: Berkley 2005 [2003].

Gibson, William. Spook Country. New York: Putnam, 2007.

Jameson, Fredric. Archaeologies of the Future: The Desire Called Utopia and Other Science Fictions. London: Verso, 2005.

Jenkins, Henry. Convergence Culture – Where Old and New Media Collide. New York: New York UP, 2006.

Leonard, Andrew. „Nodal Point“. Salon. 13.02.2003, <http://dir.salon.com/­story/tech­/books­­/2003/02/13/gibson/index.html>, Letzter Zugriff am 22.11.2007

Lim, Dennis. „How Soon Is Now? William Gibson’s Present Tense“. The Village Voice. 11.02.2003

Murray, Janet. Hamlet on the Holodeck: The Future of Narrative in Cyberspace. Cambridge: MIT Press, 1999. S. 253.

Nine Inch Nails. Year Zero. Nothing Records / Interscope, 2007

Nünning, Ansgar und Vera. Konzepte der Kulturwissenschaft. Stuttgart: Metzler, 2003.

Palmer, Christopher. “Pattern Recognition: ‘None of What We Do Here Is Ever Really Private’.” Science Fiction Studies 33.3 [100] (2006): 473-82.

Powers, Ann. „Nine Inch Nails: Reset to ‘Year Zero’“ Los Angeles Times. 17.04.2007, E1.

Unfiction Inc. „Alternate Reality Games“ <http://www.unfiction.com/glossary/> Letzter Zu­griff am 12.08.2008

Wegner, Phillip E. “Recognizing the Patterns.” New Literary History: A Journal of Theory and Interpretation 38.1 (2007): 183-200.

Wetzel, Michael. „Der Autor zwischen Hyperlinks und Copyrights.“ Hg. Dieter Detering Autorschaft – Positionen und Revisionen. Stuttgart: Metzler, 2002. 278-290.

Williams, Raymond. Keywords – A Vocabulary of Culture and Society. New York: Harper Collins, 1976.

Woodmansee, Martha. „Der Autor-Effekt. Zur Wiederherstellung von Kollektivität.“ Hg. Fotis Jannidis Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart: Reclam, 2000. 298-314.

Zeidner, Lisa. „Pattern Recognition: The Coolhunter.“ New York Times, 19.01.2003.


[1] William Gibson. Pattern Recognition. New York: Berkley 2005. Hervorhebung im Zitat ist meine. Weitere Referenzen auf den Roman sind mit PR und der Seitenzahl gekennzeichnet: PR 58f.

[2] Ein Alternate Reality Game (ARG) bezeichnet eine neue Form von zeitlich begrenztem, interaktivem Spiel, das von einer der führenden Internet-Communities, die zu dieser Spiel­form entstanden sind, wie folgt beschrieben wird:

A cross-media genre of interactive fiction using multiple delivery and communications media, including television, radio, newpapers [sic], Internet, email, SMS, telephone, voice­mail, and postal service. Gaming is typically comprised of a secret group of Puppet­Masters who author, manipulate, and otherwise control the storyline, related scenarios, and puzzles and a public group of players, the collective detective that attempts to solve the puzzles and thereby win the furtherance of the story.

Alternative Bezeichnungen in diversen Internetforen dazu wären auch immersive fiction, chaotic fiction oder beasting (nach dem ersten erfolgreichen Spiel The Beast benannt). Da mir derzeit noch keine akademisch verwertbare Definition von ARGs bekannt ist, halte ich mich an die hier genannte Definition und verweise auf die Notwendigkeit weiterer Forschung in diesem Gebiet.

Unfiction Inc. „Alternate Reality Games“ <http://www.unfiction.com/glossary/> Letzter Zu­griff am 12.08.2008

[3] Trent Reznor im Interview mit Geoff Boucher. „Trent Reznor’s ‘Year Zero’ may be an HBO Series“ Los Angeles Times Online Blogs: Hero Complex. 05.08.2008. <http://latimesblogs.latimes.com/­herocomplex/­2008/08/trent-reznor.html> Letzter Zugriff: 12.08.2008

[4] Audiotext auf <www.42entertainment.com/yearzero/> Letzter Zugriff 12.08.2008

[5] Unfiction Inc. „Alternate Reality Games“ <http://www.unfiction.com/glossary/> Letzter Zu­griff am 12.08.2008

[6] Audiotext auf <www.42entertainment.com/yearzero/> Letzter Zugriff 12.08.2008

[7] Vgl. www.42Entertainment.com/yearzero/


Die vollständige bibliografische Angabe lautet:

Schmeink, Lars. “‘Commodification Will Soon Follow Identification’: Wechselwirkungen von Kunst und Kommerz in William Gibsons Pattern Recognition und Trent Reznors Year Zero.” Literatur in Wissenschaft und Unterricht 41.4 (2008): 237-55. Print.

Der Artikel steht hier als PDF zur Verfügung: >> Commodification will soon follow identification