Es ist ein verbreitetes Klischee, dass die Fantastik im Gegensatz zur ‚echten Literatur’ (!) einzig dem Eskapismus diene und kaum zu mehr tauge als triviale Affekte im Leser zu produzieren. Doch diese Lesart der Fantastik ist weder besonders kreativ noch besonders ergiebig.

In ihrer Studie zur Mimesis (erschienen im renommierten Verlag Harvard University Press) kommt Seo-Young Chu zu der Erkenntnis, dass man die literarische Leistung unterschätzt, die für Fantastik erforderlich ist. Fantastik sei nicht der Gegenpol zur mimetischen Hochliteratur. Vielmehr, so Chu, müsse man Fantastik[1] als eine mimetische Form verstehen, die Abbilder bestimmter besonders schwer zu greifender Wirklichkeitsbezüge, sogenannter „cognitively estranging referents“ (5), generieren will. 

Damit bezeichnet Chu Bezüge zu Objekten, die für den Menschen nicht vollständig kognitiv erfahrbar sind und nur mit einem gewissen Maß an zusätzlicher kreativer Energie beschrieben werden können. Sie situiert diese im Mittel eines Spektrums zwischen Wissbarem und Unwissbarem (6). Auf der Seite des Wissbaren finden sich Alltagsgegenstände wie Werkzeuge, Essen, Kleidung usw., die eine realistische Literatur mit hoher Präzision mimetisch darzustellen vermag. Auf der Seite des Unwissbaren finden sich Konzepte, die außerhalb der menschlichen Kognition liegen und mimetisch überhaupt nicht darstellbar sind, wie etwa die Zeit des Urknalls oder Erfahrungen jenseits des Todes. (7). In der Mitte aber finden sich Objekte, die „kognitiv verfremdend“ sind – erkennbar, allerdings kaum erfahrbar: „the sublime (e.g., outer space), virtual entities (cyberspace), realities imperceptible to the human brain (the fourth dimension), phenomena whose historical contexts have not yet been fully realized (robot rights), and events so overwhelming that they escape immediate experience (shell shock)“ (7). Die Bezugnahme auf diese Objekte in der Wirklichkeit ist nicht vollständig möglich und so bedürfen sie, wenn man so will, einer höheren literarischen Energie für eine mimetische Annäherung. Entsprechend unterscheidet Chu zwischen schwachem oder „low-intensity“ Realismus, wie ihn üblicherweise realistische Literatur hervorbringt und einem starken oder „high-intensity“ Realismus, der üblicherweise der Fantastik zugeordnet wird. 

Provokant formuliert könnte man also sagen: Die Fantastik sorgt dort für eine Annäherung an mimetische Repräsentation, wo die geringe Intensität realistischer Darstellungs­formen nicht ausreicht, um die komplexen Wirklichkeitsbezüge für die Leser*in erfahrbar zu machen. Ich würde sogar soweit gehen, zu behaupten, dass bei näherer Betrachtung viele Aspekte unserer aktuellen Lebensrealität einer hohen Intensität der Darstellung bedürfen. Chu führt hier unter anderem das Leben in einer hypermedialisierten Welt an, in der die Grenzen zwischen virtueller und materieller Existenz dank allgegenwärtiger, digitaler Technologien verschwimmen (9). Und die schwer durchdringlichen ökonomisch-politischen Realitäten der spätkapitalistischen Weltwirtschaft mit ihren „too big to fail“-Banken, digitalen Monopolisten und globalisierten Märkten scheinen ebenfalls eine ideale Ausdrucksform in der hoch intensiven Repräsentation der Fantastik zu finden. Schließlich aber gehören auch von der Gesellschaft ausgegrenzte oder diskreditierte Lebenserfahrungen – sei es die afro-amerikanische Realität eines systemischen Rassismus und alltäglicher, tödlicher Polizeigewalt oder die durch #MeToo angeprangerte Allgegenwärtigkeit von sexuellen Übergriffen und systemischen Benachteiligungen – zweifellos zu den komplexen Objekten, die von einer Repräsentation jenseits ‚realistischer’ Werke und mit den Mitteln der Fantastik profitieren. Im Folgenden möchte ich daher einige Beispiele diskutieren. 

Im heutigen politischen Alltag lässt sich gut beobachten, wie die Komplexität einer globalisierten Welt selbst für Experten undurchschaubar geworden ist. Gerade die Finanzkrise von 2008 und das Fehlen einer Vorbereitung auf ein solches Event zeigen auf, wie wenig tiefgehendes Verständnis von Marktzusammenhängen in den Banken, in den globalisierten Firmen, aber auch in der Politik wirklich vorhanden ist. Bis heute haben sich die Komplexitäten des Finanzsektors etwa durch neue, digitale Technologien eher noch verstärkt – man könnte hier auf spezialisierte künstliche Intelligenzen verweisen, die den Optionshandel bestimmen und weitaus schneller Ein- und Verkäufe tätigen können, als es Menschen möglich ist. Und auch gesellschaftlich gesehen sind die Auswirkungen der Globalisierung komplexer und weiter verbreitet als noch vor 10 Jahren – Automatisierung und Digitalisierung lassen auch in der bislang verschonten westlichen Welt spürbar die bestehenden Sicherheiten zusammenbrechen. Migrationsbewegungen und ökologische Veränderungen addieren sich zu den wirtschaftlichen Prozessen hinzu und lassen die Globalisierung zu einem Hyperobjekt werden. Als solches bezeichnet Timothy Morton Objekte, die im Maßstab menschlicher Erfahrungen zu groß und zu weitreichend sind, um sie vollständig erfassen zu können (1). Er zählt das Sonnensystem, die Menge allen nuklearen Materials auf der Erde, die Lebensdauer von Styropor oder die globale Erderwärmung dazu, und ich würde an dieser Stelle die Globalisierung ergänzen. Hyperobjekte sind, laut Morton, „viscous“ (also vereinfacht gesagt zähflüssig und klebrig) und man kann ihnen nicht aus dem Weg gehen, sie lassen sich nicht ignorieren: „Every attempt to pull myself free by some act of cognition renders me more hopelessly stuck to hyperobjects“ (29). Wir müssen uns also mit ihnen beschäftigen. Aber sie lassen sich eben auch nicht mimetisch beschreiben, nicht in klar greifbare und wissbare Kategorien packen. Die Fantastik als literarische Form jedoch macht es möglich auch Hyperobjekte annähernd erfahrbar zu machen.  

            In seinem Roman The Peripheral beschreibt William Gibson das Hyperobjekt der Globalisierung, indem er dessen hyperbolisch erscheinende Komplexität literarisch vereinfacht und die Welt buchstäblich zu einem Spielball der Mächtigen macht. Der Roman beschreibt zwei Zukunftsperspektiven: die eine in der nahen Zukunft, in einer ländlichen Gegend in den USA. Hier arbeitet die Protagonistin Flynne in einer von der Digitalisierung geprägten Welt für eine kolumbianische Firma als Sicherheitskraft in einer virtuellen Realität, die einem Computerspiel gleicht. Als in dieser Welt ein Mord geschieht, den Flynne beobachtet, gerät ihr Leben ganz real aus den Fugen. 

            In der anderen Zukunftsperspektive, mehr als 70 Jahre später, hat sich das globale System der Märkte komplett verändert. Ein globaler Zusammenbruch (ökologisch, aber auch ökonomisch) hat die Menschheit dezimiert, Fragmente der bestehenden Welt konnten mit Hilfe von Nanotechnologie neu aufgebaut werden, aber der Verlust der Erde als natürliche Ressource ist deutlich spürbar. In einem künstlich wiedererschaffenen London des 22. Jahrhunderts lebt eine reiche Elite, die vor allem mit Machtspielen und politischer Einflussnahme beschäftigt ist. Arbeitskraft, die für den Erhalt ihres Lebensstandards notwendig ist, wird aus der Vergangenheit eingekauft und virtuell ferngesteuert. Mittels Quantencomputern ist es technologisch möglich, sogenannte Kontinua zu erschaffen, Abzweigungen möglicher Welten, in denen die Zukunft die Vergangenheit beeinflusst und nach Belieben manipuliert. Flynne ist Teil einer solchen alternativen Zeitlinie, die von den reichen Eliten als Spielball für ihre Intrigen genutzt wird. Der Mord, den sie in der virtuellen Realität gesehen hat, ist im London des 22. Jahrhunderts real geschehen. 

            Das Hyperobjekt der Globalisierung finden wir in The Peripheral also in dem Konzept der Kontinua mimetisch repräsentiert. Die Machtelite des 22. Jahrhunderts vermag aufgrund ihres technologischen Fortschritts in das 21. Jahrhundert zurückzureichen und die Menschen dort zu instrumentalisieren. Dass im Roman die Nutzung von Kontinua als dekadente Subkultur von Oligarchen und Aristokraten aufgezeigt wird, die alternative Zeitlinien zur Unterhaltung oder Ausbeutung generieren, lässt tief blicken. Die Lebensbedingungen in diesen als Stub (dt. Stummel) bezeichnet Alternativwelten sind dabei nicht von Bedeutung; die Menschen dort sind vielmehr Figuren in einer virtuell erlebten ökonomischen Simulation. Das Leben in einem solchen Stub wird von allwissenden und zu allem fähigen Mächten kontrolliert – ein Verständnis der eigenen Situation bleibt den Menschen verwehrt. Der Stub hat in etwa den Stellenwert eines komplexen wirtschaftlichen wie gesellschaftlichen Computer­spiels. Seine Welt hat nur einen Nutzen in direktem Bezug auf die ihn generierende Realität des 22. Jahrhunderts – Konsequenzen eingreifender Handlungen verbleiben im Stub und erreichen nicht deren Erschaffer. 

            Bezeichnend ist hierbei, dass die Machtausübung auf die Vergangenheit, wie auch der Austausch von Informationen zurück in die Zukunft sich einzig auf digitale Transaktionen beschränkt. Angesichts der fortgeschrittenen Digitalisierung, sowohl in Hinsicht auf finanzielle aber auch materielle Prozesse, ist dies aber kein Hindernis für direkte Einflussnahme. Politische Gefälligkeiten lassen sich in der Vergangenheit ebenso digital erkaufen wie wirtschaftliche Macht (etwa durch Technologiepatente) oder materielle Objekte – neue Waffen können beispielsweise dank 3D-Druckern durch die Zeit gelangen. 

            Der von Gibson im Roman beschriebene Gegenstand ist nicht die lokale Ausprägung von Globalisierung, wie sie eine realistische Literatur, etwa in Jonathan Franzens Roman The Corrections, darzustellen vermag. Statt ihre Auswirkungen in den Schicksalen einer durchschnittlichen amerikanischen Familie aufzuzeigen, widmet sich Gibson der für den Einzelnen verborgenen Struktur der Globalisierung. Tatsächlich verweist Morton darauf, dass Hyperobjekte „nonlocal“ sind und nicht mittels ihrer „local manifestation“ (1) begriffen werden können. Es bedarf also der Konstruktion von Kontinua als Miniaturwelten, um die systemische Ausbeutung sogenannter „Wasted Lives“ (vgl. Bauman) in der Globalisierung darzustellen. Was der Soziologe Zygmunt Bauman in seiner Studie auf die Dritte Welt bezieht und als „unintended and unplanned ‚collateral casualties’ of economic progress“ (39) bezeichnet, trifft auch heute schon auf Teile der Bevölkerung der USA oder auch Europas zu, die als Kollateralschäden einer Globalwirtschaft von einer gesellschaftlichen Beteiligung ausgeschlossen sind. Das fantastische Erzählen Gibsons ermöglicht hier also, das abgeschieden ländlich verarmte Leben (etwa in West Virginia mit seinen geschlossenen Kohleminen) mit seinen ökonomischen Realitäten in die Machtstrukturen einer globalen Wirtschaft einzuordnen. Es erlaubt einen Kommentar auf das menschenverachtende Profitstreben heutigen Handelns und dessen Kollateralschäden, seien sie in globalen Migrationsbewegungen zu finden oder in abgehängten Teilen westlicher Gesellschaften.  

Einem ähnlichen, „kognitiv verfremdenden“ Objekt nähert sich auch David Mitchell in seinem Roman The Bone Clocks. Das Objekt ist etwas schwerer zu benennen, konzentriert sich der Roman doch auf das „ theme of predacity” (132), wie Rose Harris-Birtill es nennt. Das Objekt des Schreibens bei Mitchell ist also die Ausbeutung Schwächerer, gesellschaftlich wie politisch. Der Roman zeigt deutlich Strukturen ungleicher Machtverteilung, die systemisch begründet sind und historisch über einen langen Zeitraum erhalten werden. Als mögliche Objekte stehen hier verschiedene Systeme im Raum, auf die der Roman in unterschiedlichen Teilaspekten verweist. Von der Kirche und deren systematischem Kindesmissbrauch, über die neokolonialen Ansprüche des amerikanischen Military-Industrial-Complex im Mittleren Osten, bis hin zu den bestehenden aristokratischen Strukturen der britischen Gesellschaft, die weiterhin Privilegien gegenüber einer armen Arbeiterklasse ausübt – in The Bone Clocks sind Anspielungen auf die unterschiedlichen Ausprägungen von Ausbeutung und „Raubtier-Verhalten“ zu finden. 

            Die komplexe Struktur der verwobenen Handlungsstränge im Roman lässt eine detaillierte Wiedergabe des Inhalts hier nicht zu. Generell aber geht es in The Bone Clocks um einen Konflikt zweier Gruppen Unsterblicher, die diametral entgegengesetzte Philosophien verfolgen. Während die Anachoreten sich der Lebensenergie (sprich, der Seele) kleiner Kinder bedienen, um ihren Körper zu erhalten, versuchen die Horologen diesem Gräuel entgegenzutreten und nutzen lieber eine Art Transmigration der Seele. Sie wandern von einem Körper zum nächsten – auf freiwilliger Basis. Am Ende des Romans kommt es zum Showdown, bei dem beide Fraktionen nahezu ausgelöscht werden und eine Welt jenseits ihrer Machtspiele hinterlassen. 

            Wie auch Gibson nimmt Mitchell sein Objekt beim Wort, sieht Ausbeutung als buchstäblichen Verzehr von Menschen an und zeigt damit die systemisch erhaltenen Machtstrukturen. Die Fähigkeit sich Unsterblichkeit zu erkaufen, in dem man das Leben anderer opfert, verweist hier darauf, dass hegemonialen Strukturen eine Form des Selbsterhalts inhärent ist. Wichtigstes Beispiel ist für Mitchell die auf alten Klassenunterschieden basierende Macht, die aber auch eine ökonomische Komponente hat. In der realen Welt wird diese Art der Macht über komplexe Geflechte und ausgeklügelte Systeme von sozialer Zugehörigkeit von Generation zu Generation erhalten und mittels Erbschaft weitergegeben. Ein Beispiel sozialer Weitergabe sind Boarding Schools wie Eton und Eliteuniversitäten wie Oxford und Cambridge oder die Ivy League, die Clubs, Bünde und Vereinigungen organisieren, in denen solche Geflechte möglich werden. Jede Generation erhält die Werte ihrer Vorgänger und deren Besitztümer in der Weitergabe im Kreis der Eingeweihten. In Mitchells Roman wird dieser Machterhalt buchstäblich von der generationalen Weitergabe abgekoppelt, der Kreis der Eingeweihten verengt. Ausbeutung geht also von Systemen aus, die sich selbst erhalten und nicht durch Einflüsse von Außen verändert werden können. Die Fantastik erlaubt es Mitchell sein „kognitiv verfremdendes“ Objekt, die systemische Ausbeutung anderer Menschen zum Selbsterhalt, mimetisch so greifbar zu machen, dass hermetische Gesellschaftsgruppen wie etwa die politische oder wirtschaftliche Elite eines Landes als parasitär erkannt werden können. 

Doch die Komplexität aktueller gesellschaftlicher Strukturen ist nicht nur durch ökonomische oder soziale Stratifikation bestimmt. In diese Strukturen verwoben sind eine Vielzahl von Diskursen der Identity Politics, denen es in ihrer Zielsetzung um das Aufbrechen alter Hegemonien und systemischer Unterdrückungen geht. So sind koloniale und rassistische Denkweisen bis heute in den meisten Gesellschaften angelegt und werden – oftmals unwissend – befördert. Eine solche systemische und unbewusste rassistische Struktur kann ebenfalls als „kognitiv verfremdendes“ Objekt angesehen werden, das nicht in seiner Gänze und Komplexität durch den literarischen Realismus mimetisch dargestellt werden kann. Chu nennt als Beispiel einer hoch-intensiven Repräsentation der Fantastik den Zeitreiseroman Kindred von Octavia Butler (8). 

            Im Roman reist die junge Afro-Amerikanerin Dana aus ihrer eigenen Zeit in den 1970er Jahren mehrfach unfreiwillig zurück in das frühe 19. Jahrhundert zu ihren Vorfahren, die auf einer Plantage in Maryland leben. Sie wird, als Schwarze, von ihrem eigenen Vorfahren, einem weißen Großgrundbesitzer, versklavt und zum Teil der schwarzen Gemeinschaft auf der Plantage. Sie erfährt am eigenen Leib die komplexen und schwierigen Entscheidungen, die mit der afro-amerikanischen Geschichte und der Zeit der Sklaverei einhergehen – die gewaltvollen Trennung von Familienmitgliedern, der Verrat von Gemeinschaft zur Sicherung des eigenen Überlebens, die alltäglichen Brutalität der Aufseher und das Aufbrechen eigener ethischer Ideale in Extremsituationen. So ist sie gleichermaßen eine Nachfahrin der stolzen Sklavin Alice und des zur Gewalt neigenden Sklavenbesitzers Rufus und muss ihre eigene Identität in Einklang mit den Misshandlungen bringen, die von Rufus ausgehen. Ihre Erfahrungen und das Leid, dem sie ausgesetzt ist, verändern ihre eigene Perspektive auf ihre Gegenwart und den Kampf um Gleichberechtigung. Am Ende des Romans muss sie Rufus töten, als dieser sie zu vergewaltigen versucht – kurz bevor sie brutal in die 1970er zurückgerissen wird und dabei einen Arm verliert. 

            Das Trauma der Sklaverei als Objekt der Fantastik wird hier buchstäblich für Dana am eigenen Leib erfahrbar und fordert Tribut. Ihre eigene Identität als afro-amerikanische Frau ist nicht von den komplexen historischen Realitäten zu trennen. Ihr eigener Körper ist sichtbares Zeichen der Verstrickungen und Konflikte, die in den USA über die Deutung der Geschichte ausgetragen werden und etwa in der Bürgerrechtsbewegung Ausdruck fanden.

Die Beziehung zwischen Schwarzen und Weißen in den USA hat eine lange Geschichte, deren einzelne Phasen und Aspekte bis heute immer wieder eine Verarbeitung in der Literatur suchen – und die Fantastik bietet Autor*innen hier ein weites Feld der Möglichkeiten, sich dem komplexen Objekt zu nähern. So ist gerade der historische Roman oftmals mit fantastischen Aspekten durchsetzt und erlaubt eine Repräsentation des Nicht-Erfahrbaren, das in seiner Dimension jenseits des Einzelnen liegt. Ein aktuelles Beispiel hierfür ist die Behandlung der Schwarzen in der Zeit der Jim Crow-Gesetze und der reale Ausschluss von Afro-Amerikanern aus weiten Teilen der gesellschaftlichen Mitbestimmung. Der Roman Lovecraft Country von Matt Ruff versucht sich diesem komplexen und „kognitiv verfremdenden“ Objekt zu nähern und die hermetischen Gesellschaftsstrukturen der „equal but separate“-Mentalität aufzuzeigen. 

            Der Roman erzählt von den Machenschaften der rassistischen Geheimloge „Söhne Adams“, die in ihrem Streben nach magischer Macht und ewigem Leben das Leben des Protagonisten Atticus Turner zu beeinflussen versucht. Atticus ist zentraler Bestandteil der Blutmagie der Loge und soll in einem Ritual geopfert werden. Was der junge Afro-Amerikaner nicht weiß und mit Erstaunen feststellt, ist, dass seine Urgroßmutter im Haushalt des Logengründers als Sklavin gedient hat und dieser mit ihr ein Kind gezeugt hat. Somit steht Atticus in direkter Linie zur Loge und gilt laut deren Statuten als Mitglied – eine Ironie angesichts der massiv rassistischen Orientierung der Loge. 

            Wie auch Kindred zeigt Lovecraft Country damit die komplizierte und verwobene Beziehung von Weißen und Schwarzen auf und führt mit Hilfe des Konzepts ritualisierter Blutmagie die Absurdität rassistischer Segregationspolitik vor. Komplexe Wirklichkeitsbezüge wie das Leben unter Jim Crow oder die Konsequenzen der „One-Drop-Rule“ werden dank der Fantastik erfahrbar repräsentiert. Atticus Blut, obwohl er Schwarzer ist, ist für den rassistischen Geheimbund als magischer Machtfaktor relevant, weil es über Generationen mit dem weißen Logengründer verbunden ist – ein Tropfen genügt, um es mit Macht aufzuladen. Gleichermaßen werden die hegemonialen Strukturen der US-Gesellschaft offengelegt, die zwar auf der Arbeit Schwarzer basieren, diese aber effektiv aus Entscheidungspositionen ausgrenzen. Nicht nur das Trauma der Sklaverei prägt somit das gesellschaftliche Zusammenleben in den USA, auch die harten Kämpfe um die Civil Rights in der Mitte des 20. Jahrhunderts tragen ihren Teil zur Komplexität der „race relations“ bei und machen sie somit zu einem idealen Fall für die Fantastik und die hochintensive Repräsentation.

Für ein letztes Beispiel für das Potential fantastischen Erzählens zur Darstellung komplexer und „kognitiv verfremdender“ Objekte möchte ich noch einmal die Perspektive wechseln und die aktuelle Awareness-Kampagne unter dem Hashtag #MeToo anführen. Wie weit verbreitet systemischer Sexismus und sexualisierte Gewalt sind und welche Rückbezüge zu anderen hegemonialen Strukturen hier vorhanden sind, ist nur schwer als Objekt literarischer Verarbeitung greifbar. Gerade die Fragen danach, wie sich solche Strukturen tradieren und welche Möglichkeiten es gibt, diese Tradierungen aufzuheben, sind nicht leicht in der realistischen Literatur zu beantworten. Es gibt natürlich eine Vielzahl von Repräsentationen, die sich einzelner Ereignisse in diesem Kontext annehmen, wie etwa die Kurzgeschichte „Cat Person“ von Kristen Roupenian, die im Dezember 2017 im New Yorker veröffentlicht und im Nachgang mit #MeToo kontrovers diskutiert wurde. Allerdings zeichnet die Geschichte keine sexualisierte Gewalt nach, sie zeigt vielmehr am Beispiel eines einzelnen Paares und dessen missglücktem One-Night-Stand, wie problembeladen Sexualität und vermeintliche Konsensualität sind. Was die Geschichte nicht vermag, ist abseits des Mikrokosmos einer einzelnen Beziehung und deren individueller Kommunikation ein komplexes Bild des Geschlechterverhältnisses insgesamt und im Rahmen anderer hegemonialer Strukturen wie Politik und Medien darzustellen. 

            Aber genau dieses „kognitiv verfremdenden“ Objekts nimmt sich Naomi Alderman in ihrem Roman The Power an, der in einer fernen Zukunft spielt, in der die Machtverhältnisse der Geschlechter getauscht sind. Der Roman vermittelt durch seine (intradiegetisch-fiktionale) Historisierung den Blick der zukünftigen Gesellschaft auf den langsamen Wandel der hegemonialen Strukturen, die Frauen zu den Machthabern der Geschichte machen. Ausgehend von einer evolutionären Veränderung in der weiblichen Biologie, die Frauen die Fähigkeit gibt starke Stromstöße zu generieren, wandelt sich die gesellschaftliche Dynamik, sodass Frauen zum physisch wie psychisch stärkeren Geschlecht werden. Alderman verweist dabei aber nicht nur in individuellen Schicksalen auf die persönlichen Veränderungen in ihren Hauptfiguren, sondern auch auf sich wandelnde Machtverhältnisse in Religion, Politik und Medien.

            So entsteht eine neue Religion, die das Christentum dekonstruiert und in Eva zugleich eine fürsorgliche Mutter- und wunderwirkende Heilandsfigur an die Stelle Jesu Christi stellt. Die kirchliche Deutungshoheit über weltliche Ereignisse und die Einflussnahme von Religion auf Politik werden somit entlarvt. Dazu kommt, dass politische Verhältnisse auf der Welt sich gegen die ursprünglichen Machthaber wenden. Zuerst entstehen Revolutionen, die politische Umbrüche in patriarchalen Systemen wie etwa in Saudi-Arabien erzwingen. Dann aber entwickeln sich auch weiblich geführte Autokratien, die mittels Gewalt und Unterdrückung ihre Macht ausüben. Das Potential der neuen Macht der Frauen verspricht zuerst reale Gleichheit, kippt dann aber global gesehen schnell in umgekehrte Gewaltausübung und Unterdrückung. In seinen extremsten Momenten zeigt The Power, wie Frauen die neue Macht in Gewalt gegen Männer, auch in Form sexualisierter Gewalt, umsetzen – und das nicht nur im Moment des Wandels, sondern strukturell und systematisch. 

            Die literarische Rahmung des Romans als Buch-im-Buch wiederum ermöglicht es Alderman, die eigentliche Problematik tradierter Machtverhältnisse aufzuzeigen und darauf zu verweisen, dass Benachteiligung innerhalb eines gesellschaftlichen Systems selbsterhaltend ist. Der Rahmen ist bestimmt von Misandrie und abwertenden Bemerkungen über vorgegebene Geschlechterrollen für Männer. Er zeigt, wie Abwertung sich in alltägliche Bereiche bewegt und systemisch das Infragestellen abweichender Rollenbilder propagiert.

            Alderman nutzt also die Fantastik, um Frauen buchstäblich die Macht über Männer zu geben und mittels literarischer Extrapolation das Festigen matriarchaler Strukturen und die Normalisierung von (sexualisierter) Gewalt gegen Männer greifbar zu repräsentieren. Sie geht sogar soweit, diese Strukturen historisch zu verankern und eine Para-Historie zu präsentieren, die die Entwicklung der Geschlechterverhältnisse über Jahrhunderte erklärt. Dabei verbindet sie persönliche Schicksale mit globalen politischen Veränderungen und bietet so die Möglichkeit die komplexen Verknüpfungen von individueller Erfahrung (#MeToo) mit der systemischen Struktur des Sexismus in unseren Gesellschaften zu erkennen. Die Fantastik erlaubt es Alderman in The Power„systemische Unterdrückung“ mimetisch darzustellen.

Wie diesen Beispielen fantastischen Erzählens zu entnehmen ist, sind aktuelle gesellschaftliche Zustände und Entwicklungen, etwa in Form von Globalisierung, systemischer Unterdrückung oder traumatischer Erfahrungen nicht so eindrücklich und greifbar mit den Mitteln des Realismus darzustellen. Vielmehr bedarf es einer anderen Mimesis-Strategie, um solche „kognitiv verfremdenden“ und komplexen Objekte für die Leser*innen erfahrbar zu machen. Die Fantastik liefert hierzu einen ideal geeigneten Werkzeugkasten. Die Extrapolation bestehender Entwicklungen ins „Was wäre wenn“ und das Wortwörtlich-Nehmen sonst nur bildlich darstellbarer Konzepte erlaubt die mimetische Repräsentation nicht im menschlichen Erfahrungshorizont befindlicher Objekte. Mit Hilfe der Fantastik kann die Literatur dabei helfen, das Nicht-Erfahrbare erfahrbar zu machen.     

Zitierte Werke

Bauman, Zygmunt. Wasted Lives: Modernity and its Outcasts. Cambridge: Polity, 2004. 

Chu, Seo-Young. Do Metaphors Dream Of Literal Sleep? A Science-Fictional Theory of Representation. Cambridge: Harvard UP, 2010.

Harris-Birtill Rose „David Mitchell, The Bone Clocks“ Foundation: The International Review of Science Fiction, Vol. 44, Nr. 1, 2015, S. 131-34.

 Morton, Timothy. Hyperobjects: Philosophy and Ecology after the End of the World. Minneapolis: U of Minnesota P, 2013.


[1] Chu bezieht sich auf die Science-Fiction, inkludiert aber andere nicht auf Realismus ausgerichtete Genres in seinen Ausführungen: Fantasy, Horror, Surrealismus, Utopien, Magischen Realismus, Slipstream und Krimis (9). Bis auf letzteres sind alle Genres einem weitgefassten Begriff üblicherweise der Fantastik zuzuordnen.  

Ursprünglich erschienen in der Neuen Rundschau:

Schmeink, Lars. “Repräsentationen des Nicht-Erfahrbaren.” Neue Rundschau 1 (2019): 46-56.