Seit der Entwicklung der ersten Videospiele ist das Medium eng mit dem Genre der Science Fiction (SF) verbunden. Nicht nur die ersten Spiele (beispielsweise Spacewar! von 1962) waren der SF verpflichtet, sondern in mancherlei Hinsicht auch die technische Entwicklung des Mediums selbst.

So ist etwa der Erfolg der Egoperspektive gerade in den ersten Jahren eindeutig der SF zu verdanken, und Spiele wie Wolfenstein 3D (1992), Doom (1993), Quake (1996) und Half-Life (1998), die den Ego-Shooter zu einer der erfolgreichsten und beliebtesten Spielmechaniken überhaupt haben avancieren lassen, sind ohne ihre SF-Welten und ihren fremdartigen Bedrohungen kaum vorstellbar. Die ästhetische Freiheit sich die Topoi der Science Fiction zu eigen zu machen und diese nach Belieben zu erweitern, dürfte einen wichtiges Element für den Erfolg dieser Spielform sein. Letztlich aber ist es wohl die Erweiterung des Erfahrungsraums der filmischen SF durch die Interaktivität und Handlungsmacht des Spielers, die Videospiele zum eigenständigen kulturellen Produkt macht. Die freie Erkundung einer fremden Welt durch den Spieler – unmittelbar und klar identifiziert als Alter Ego in der ‚Ego‘-Perspektive – stellt bis heute einen der zentralen Reizmomente dieser Art Spiele dar.

Auch 2014 setzen entsprechend noch viele sogenannte Triple-A-Titel auf klassische Ego-Action in Verbindung mit SF-relevanten Welten und Themen: von der Klassiker-Neuauflage Wolfenstein: The New Order, über typische Kost wie Killzone und Wasteland 2 bis hin zum Multiplayer-Epos Destiny oder der Militäraction Call of Duty: Advanced Warfare. Die Kombination von Science Fiction und Ego-Shooter ist eine sichere Sache, ein Erfolgsrezept – das ludische Pendant zum 3D-Actionspektakel á la Hollywood.

Doch wie auch beim Medium Film und der endlosen Reihe Action-Blockbuster á la Transformers sind Videospielproduktionen wie Wolfenstein nur eingeschränkt in der Lage, das Genre zu revolutionieren oder unser Verständnis davon zu erweitern, wie Science Fiction und Videospiele einander kreativ und innovativ beeinflussen. In wie weit können Videospiele unsere Konzepte von Science Fiction, deren Funktion und Ästhetik, in Frage stellen und durch neue Ideen bereichern? Und wie vermögen Science Fiction Welten das Medium Videospiel zu erneuern und alternative Spielkonzepte hervorzubringen?

Wolfenstein: The New Order ist ein Beispiel dafür, wie die SF dazu genutzt werden kann, eine bekannte Spielmechanik (Shooter – also: Gegner erschießen) durch narrative Verzerrung zu exotisieren und mit einem dystopischen, sozialkritischen Anstrich zu versehen. Der Kampf eines amerikanischen Soldaten gegen die Herrschaft der National­sozialisten im (oder hier alternativ-historisch nach dem) Zweiten Weltkrieg ist kein SF-spezifisches Narrativ. Die SF dient im Spiel allerdings dazu die Gewalttaten dieser historischen Periode in die Groteske zu überspitzen und so eine Verarbeitung der Gewalt zu ermöglichen  (vgl. Schmeink). Die Vermischung der realen Gräuel mit SF-Tropen wie dem „verrückten Wissenschaftler“ oder dem „Cyborg“ erlaubt es dem Spieler, sich von der Brutalität zu distanzieren und diese aus einer neuen Perspektive zu erfahren. Hier liegt eine der Stärken der Science Fiction, die aber eben nicht spezifisch für das Medium Videospiel ist, sondern die SF laut Darko Suvin als Ganzes begründet: die Funktion der „kognitiven Verfremdung“ (Suvin 26; vgl. Spiegel) unserer Realität. In Hinsicht auf die SF ist es also egal ob der Rezipient einen Film wie Dead Snow (2009) oder ein Spiel wie Wolfenstein konsumiert – die groteske Verfremdung von Gewalt als Distanzierungsmittel greift nach ähnlichen Prinzipien. Ebenso irrelevant in Hinsicht auf die Spielmechanik ist es, ob Spieler in Wolfenstein auf Cyborg-Nazis oder in Medal of Honor (1999) auf realistische Gegnerfiguren schießt. Die SF-Haftigkeit eines solchen Spiels ist einzig narratives Instrumentarium, um das Spiel thematisch zu färben.

Wie Pawel Frelik in seinem Essay zum Videospiel in der SF aufgezeigt hat, liegt der Analyse von Videospielen in Hinsicht auf ihr narrativ-innovatives Potential für ein Genre wie die SF eine „fehlerhafte Überzeugung“ (227) zu Grunde, die Narration als zentrales Kriterium für Videospiele nimmt und dabei relevantere Faktoren des Mediums wie Visualität und Performativität ignoriert.

Dabei ist gerade die Evolution der Ego-Perspektive weg vom vorherrschenden Shooter und hin zu einer diversifizierten Spielmechanik, wie sie in Portal (2007), Mirror’s Edge (2008), Dear Esther (2008/12) oder The Stanley Parable (2011/13) genutzt wird, besonders fruchtbar in Hinsicht für die Analyse der „Schnittstellen zwischen SF als kulturellem Modus und Video­spielen als Medium“ (Frelik 229). Zwei Independent-Produktion aus dem Jahr 2014 sollen daher im Folgenden diese Schnittstellen verdeutlichen: The Talos Principle des kroa­tischen Entwicklers CroTeam und NaissanceE vom französischen Entwickler Limasse Five.

The Talos Principle ist im weitesten Sinne ein Puzzlespiel, bei dem Spieler die Aufgabe haben, wie Tetris-Bausteine geformte Siegel einzusammeln. Dazu erkunden Sie eine von der Antike inspirierte Welt, in der die Siegel aber hinter hochtechnologischen Barrieren zu finden sind. Mit Hilfe von Störsignalen, Konnektoren und ähnlichen Gegenständen müssen Spieler so ihren Weg zu den Siegeln finden und dabei Kraftfelder, Wächterdrohnen und Selbstschussanlagen passieren. Die Siegel wiederum werden eingesetzt, um weitere Weltabschnitte zu öffnen und zusätzliche Hilfsmittel freizuschalten. Wie schon in Portal ist die kreative Nutzung der Ego-Perspektive für die Lösung der Puzzle ein wichtiger Bestandteil der Spielmechanik, ohne das jemals ein klassischer „Shooter“ daraus würde. So müssen Spieler die Handhabung und die Limitierung der ihnen zur Verfügung stehenden Hilfsmittel erfahren, in dem sie diese in unterschiedlichen Konstellationen ausprobieren und kombinieren. Das Spiel bietet zudem keine direkten Spielanweisungen oder sonstige nicht-diegetische Spielelemente. Vielmehr, und hier liegt wiederum ein innovativer Aspekt des Spiels, ist es vom Spieler freiwillig investierte Zeit und Mühe, die eine narrative Motivation für die Rätsel erkennen lässt. Eine körperlose Stimme erklärt das Spielgeschehen zwar als Teil einer elaborierten Selbstfindung für den Spieler, aber die eigentliche Hintergrundgeschichte wird erst durch die räumliche Erkundung der Welt offenbar. Mittels versteckter Botschaften in QR-Codes und Emails (die an Computerterminals erforscht werden) wird deutlich, dass der Spieler ein Android und die Welt eine virtuelle Simulation ist. Die Puzzle symbolisieren das Erwachen einer KI und im Spiel konkurrieren zwei oppositionäre Positionen miteinander, die den Spieler beeinflussen wollen. In dem Konflikt zwischen Elohim (der körperlosen Stimme) und Milton (dem Archivar in den Terminals) verdeutlicht sich eine philosophische Debatte um freien Willen, den Erhalt von Wissen, die Natur des Menschen und eine mögliche Zukunft jenseits des Menschen.

Wie schon The Stanley Parable oder auch BioShock (2007) gelingt es dem Spiel darüber hinaus aber auch eine immer deutlicher zum Vorschein tretende Metaebene zu eröffnen, auf der – eingebettet in einfache Rätsel – die Erfahrung in der Welt des Spiels mit der Erfahrung des Spielers in der Realität in Verbindung gesetzt wird. Welchen Anweisungen folgen wir? Wie entscheiden wir uns, wenn keine moralisch übergeordnete Instanz die einzelnen Positionen für uns differenziert? Und was macht eine vollständige menschliche Erfahrung aus – Glaube, Wissen, Gehorsam, Eigenständigkeit? Die Spiel­mechanik – bezogen auf die Erkenntnis des Selbst (in der Ego-Perspektive), das individuelle Entscheiden für eine Ethik (in Form der Positionen Elohims bzw. Miltons) und das Lösen von Rätseln (als Entwicklung und Bildung) – wird somit zur Aussage über die menschliche Erfahrung in der Welt. Die Topoi der Science Fiction – allen voran die Diskurse um Posthumanismus und künstliche Intelligenz – werden im Spiel erfahrbar, greifbar und steuerbar.

Einerseits im gewissen Rahmen ebenfalls ein Puzzlespiel, andererseits eindeutig ein Geschicklichkeitsspiel wie Mirror’s Edge, bei dem Spieler einen labyrinthischen Hindernisparcours überwinden müssen, ist die Spielerfahrung von NaissanceE deutlich physischer (im Sinne von notwendiger Fingerfertigkeit und korrektem Timing) und deswegen mitunter auch frustrierender. Spieler finden sich in medias res als entkörperlichte Figur von einer abstrakten schwarzen Kreatur gejagt in einer surrealen Stadt wieder. Abseits der einleitenden Worte „Lucy is lost“ und einiger Einblendungen zur Steuerung gibt es keine Anhaltspunkte für ein Spielziel – die Erkundung der Welt und das Verstehen der eigenen Situation stehen im Vordergrund. Mechanisch mischt das Spiel Aspekte des Puzzles – durch manipulierbare Elemente wie Lichtkugeln, Fahrstühle, Barrieren – und Aspekte des Plattformers, bei dem die Durchquerung eines Parcours im Vordergrund steht. Doch beide Spielaspekte transportieren keine Story, es gibt kein narratives Element jenseits der Erkundung der Umwelt und der Bewegung im Raum. Dabei ist die Körperlosig­keit der Spielfigur und die mangelnde Präzision der Kollisionsabfrage für die Spielerfahrung allerdings hinderlich.

Der zentrale Reiz des Spiels liegt nämlich in der Welt, die entworfen wird und vom Spieler durch die Steuerung der Figur durchquert werden muss. Hierin begründet sich auch der eigentliche SF-Moment, denn die Welt ist von spezifischer SF-Ikonizität. Zum einen reduziert das Spiel die Darstellung der Welt auf Licht und Dunkel, entzieht ihr (in weiten Teilen) alle Farben und konzentriert sich auf optische Illusionen, Schattenspiele und die Desorientierung durch Überbelichtung. Unsere Wahrnehmung wird auf abstrakte Formen und die Reflexionen von Licht reduziert – eine minimalisiert wissenschaftliche (geometrische, optische) Deutung von Welt. Darüber hinaus aber extrapoliert das Spiel die Formen jenseits realistischer oder praktischer Begründung und zelebriert einen Exzess an Levelarchitektur. Gerade hier finden SF-Kundige eine Bildsprache, die an die Hochhäuser von Blade Runner (1982), die Computerarchitektur von Tron (1982), die unterirdische Welt von Harlan Ellisons „Ich muss schreien und habe keinen Mund“ (1968) oder auch die technoiden Tunnel und Schächte des Todessterns aus Star Wars (1977) erinnert – am Schluss sogar an die desorientierenden Wüsten von Arrakis (aus Der Wüstenplanet [1968]) oder Tatooine (aus Star Wars). NaissanceE erkundet architektonische Abstraktion in engen, verwinkelten Schächten, riesigen außerirdischen Hallen, unwirtlichen Gegenden oder hypertechnologisierten Stadtpanoramen und stilisiert diese zum zentralen Spielelement.

Als Spielerfahrung ist NaissanceE damit für ’normale‘ Spieler oftmals frustrierend und gerade die Verweigerung einer narrativen Linie, einer Teleologie und eines erkennbaren Abschlusses (in seiner Offenheit erinnert das Spiel an Vincenzo Natalis Film Cube [1997]) muss als Abkehr von standardisierten Spielerwartungen verstanden werden. Das Spiel ist vielmehr eine abstrakte visuelle Welterkundung und der Weg selbst Spielziel – als SF ist NaissanceE ein „ikonografisches Archiv der Science Fiction“ in dem Genrebilder „mobilisiert und dem Spieler zur Verfügung gestellt werden“, eine Art erfahrbare Wunderkammer oder lebendige Malerei (Frelik 233).

Die Variabilität mit der Science Fiction-Videospiele wie The Talos Principle und NaissanceE sich Spielmechaniken wie die Ego-Perspektive zu Eigen machen verdeutlicht das Potential, dass die Kulturform Videospiel für die Zukunft zu bieten hat. Die Schnittstellen von Medium und Genre sind dabei interessante Ansatzpunkte, um Videospiele als weit mehr zu verstehen denn als stumpfe Action-Unterhaltung. Vielmehr zeigen die hier vorgestellten Spiele, wie sich Kunst, Aussage und Mechanik verquicken lassen, um so eine tiefergehende Spielerfahrung zu erzeugen, die sowohl das Genre SF als auch das Medium Videospiel produktiv vorantreibt.

Behandelte Spiele:

NaissanceE. Entwickler: Limasse Five. Publisher: Steam. 2014.

The Talos Principle. Entwickler: CroTeam. Publisher: Steam. 2014.

Wolfenstein: The New Order. Entwickler: Machine Games. Publisher: Bethesda Softworks. 2014.

Bibliografie:

Frelik, Pawel. „Video Games“. The Oxford Handbook of Science Fiction. Hg. Rob Latham. Oxford: Oxford UP, 2014. 226-38.

Schmeink, Lars. „Wolfenstein: The New Order.“ SFRA Review 310 (2014): 57-60.

Spiegel, Simon. „Der Begriff der Verfremdung in der Science-Fiction-Theorie: Ein Klärungsversuch.“ Quarber Merkur 103/104 (2006): 17-40.

Suvin, Darko. Poetik der Science Fiction: Zur Theorie einer literarischen Gattung. [Meta­mor­phoses of Science Fiction]. Übers. Franz Rottensteiner. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1979.


Im Original erschienen in Das Science Fiction Jahr 2015.

“SF-Welten und die Ego-Perspektive” Das Science Fiction Jahr 2015. Hg. Hannes Riffel und Sascha Mamczak. Berlin: Golkonda, 2015: 336-41.