Das Gefühl von Vertrautheit und Fremdheit. Interview mit James Sullivan
Die deutsche Fantasy hat sich in den 2000er-Jahren mit einer ganzen Reihe sogenannter Völker-Romane hervorgetan, welche die literarische Fantastik noch bis heute prägen und im Allgemeinen als Erbe einer durch Tolkien geprägten sehr klassischen Perspektive auf das Genre zu verstehen sind. Eines der ersten Werke dieses Trends ist der gemeinsam von Bernhard Hennen und James Sullivan verfasste Roman Die Elfen (2004). Für Sullivan war die Kooperation das Sprungbrett für eine erfolgreiche Solokarriere, die ihn über die Fantasy-Romane Der letzte Steinmagier (2008) und Nuramon (2013) zur Science Fiction brachte, in der er mit Chrysaor (2016), Die Granden von Pandaros (2017) und Die Stadt der Symbionten (2019) drei Romane veröffentlichte. Noch in diesem Jahr wird mit Das Erbe der Elfenmagier (2021) der erste Teil einer neuen Fantasy-Reihe erscheinen. Seit einiger Zeit engagiert sich der gebürtige US-Amerikaner mit Kolleg*innen für einen Wandel in der SF&F-Szene, hin zu einer dezidiert politischen und vielseitigeren SF&F. Im Interview berichtet Sullivan über diese »progressive Fantastik«, über seine Erfahrungen als Person of Color in der deutschen Fantastik und welche Verbindung Die Stadt der Symbionten zum Afro-Futurismus hat.
ZFF: Sie haben Ihre Karriere mit Fantasy begonnen und sind dann aber vor ein paar Jahren zur Science Fiction gewechselt – warum dieser Wechsel und was bedeuten die beiden Genres für Sie? Wo fühlen Sie sich wohler?
James Sullivan: Als Leser habe ich mich schon immer zu beiden der großen Subgenres der Fantastik hingezogen gefühlt und hatte immer Ideen für beide. Nachdem ich mit Nuramon Ende 2013 meinen dritten Fantasy-Roman veröffentlich hatte, kam mir mit einem Schlag der entscheidende Einfall für einen SF-Stoff, der mich seit Mitte der 1990er-Jahre beschäftigte. Binnen kürzester Zeit machte ich so viele Notizen, dass ich mit dem Roman hätte beginnen können, doch ich schreckte davor zurück, ein Exposé einzureichen. Denn das hätte bedeutet, ein lange vorbereitetes Fantasy-Projekt ein weiteres Mal zurückzustellen. Zudem war ich mir unsicher, ob irgendjemand Interesse daran haben könnte, SF-Texte von mir zu lesen. Ein paar Monate später fragte mich mein Literaturagent, ob ich mir vorstellen könnte, zur Abwechslung mal einen SF-Roman zu schreiben. Die Frage machte mir Mut. Ich begann mit dem Roman Chrysaor und arbeitete damit plötzlich auch in der SF. Dabei stellte ich fest, dass sich die Arbeit in den beiden Subgenres gar nicht so sehr unterscheidet. Sie bilden unsere Welt einfach nur anders auf eine fantastische Erzählwelt ab. Bei der Fantasy verfremdete ich vor allem Dinge aus der Wirklichkeit, während ich sie in der SF in eine fiktive Zukunft projizierte. Für mich waren Fantasy und SF immer zwei Seiten einer Medaille. Das hat auch viel damit zu tun, dass ich viele Autor*innen und Erzählwelten zu schätzen wusste, die zu beiden Genres etwas beigetragen haben. Am Anfang waren das Leute wie André Norton und Roger Zelazny, aber auch sicherlich Dinge wie Star Wars und auch die Serie Flash Gordon, die ich als Kind als Wiederholung sehen durfte.
ZFF: Sie haben in Interviews gesagt, dass Sie vor allem durch die US-amerikanische SF der 1960er- und 1970er-Jahre beeinflusst worden sind: Joanna Russ, Ursula K. Le Guin, und vor allem Samuel R. Delany. Wie ist ein solcher Einfluss zu verstehen? Was macht deren SF für Sie aus und wie versuchen Sie, das selber umzusetzen?
James Sullivan: Der Einfluss besteht erst einmal darin, dass ich Werke dieser Autor*innen gerne gelesen habe und immer mal wieder in die Hand nehme. Le Guin und Zelazny kannte ich als reine Fantasy-Autor*innen, deren Werke ich neben denen von Lord Dunsany, J. R. R. Tolkien und anderen las. Als ich dann später aber Alfred Besters The Stars My Destination (1959) gelesen hatte und kaum glauben konnte, dass dieser Roman aus den 1950er-Jahren stammte, begann ich, die Dinge zeitlich zueinander einzuordnen. Ich fand zu Delany zurück, von dem ich bis dahin nur einen seiner frühen Romane gelesen hatte. Ebenso kehrte ich zu Zelazny und Le Guin zurück, die ich nun als SF-Autor*innen kennenlernte. Von da aus war der Weg zu Joanna Russ nicht weit. Es war sehr deutlich, dass meine Vorlieben in der SF im progressiven Spektrum zu suchen sind.
Wenn ich konkrete Einflüsse benennen müsste, dann würde ich zur Erklärung Nuramon heranziehen. Im Studium hatte ich mich in Anglistik vor allem mit Narratologie und in Germanistik mit der Artusepik auseinandergesetzt und wollte in meinen Fantasy-Romanen alte Erzähltraditionen mit zeitgemäßen Mitteln umsetzen. In Die Elfen, die ich mit Bernhard Hennen schrieb, konnte ich das bereits bis zu einem gewissen Grad tun. Bei Nuramon, der Fortsetzung von Die Elfen, griff ich dieses Konzept wieder auf und wollte einen Stoff, der sich sonst im Genre leicht über sechs bis neun Bände erstreckt hätte, auf begrenztem Raum erzählen – schließlich in einem Band. Dazu brauchte ich Strategien. Da waren Delany und die anderen beinahe wie Lehrkräfte, die mir Lösungen anboten. Ich hielt Ausschau nach Möglichkeiten, viel Geschehen auf begrenztem Raum zu erzählen. Ich erinnerte mich an Alfred Besters The Stars My Destination, an Theodore Sturgeons To Marry Medusa (Das Milliarden-Gehirn, 1958) und an Delanys The Fall of the Towers (Der Fall der Türme, 1970). Besters Roman ist im Grunde eine Adaption von Alexandre Dumas’ Monumentalwerk Der Graf von Monte Cristo (1844–1846) – aber auf 250 Seiten. Sturgeon erzählt in seinem Roman multiperspektivisch in kleinen Kapiteln von der Invasion einer Schwarmintelligenz; und Delanys Werk ist eine komplette Trilogie auf 400 Seiten.
Was war also damals bei diesen drei Autoren anders als heute? Zum einen herrschte noch nicht das Dogma des szenischen Erzählens. Erzählzeit und erzählte Zeit gingen öfter auseinander, aber auch die Produktionsbedingungen waren anders. Delanys frühe Werke sind als Ace Paperbacks erschienen, teilweise als Doppelromane mit Wendecover, bei denen man von der einen Seite einen Roman las und von der anderen den anderen. Der verfügbare Raum war somit durch äußere Bedingungen stark eingeschränkt. Ich sah, wie durch geschickte Perspektivwechsel, Schnitte und auch gelegentlich durch raffendes Erzählen viel Stoff auf begrenztem Raum vermittelt werden konnte, ohne dass dadurch irgendetwas gelitten hätte. Dazu kamen für mich noch Techniken wie die Collage hinzu, die John Brunner in Stand on Zanzibar (Morgenwelt, 1968) verwendet hatte. Und damit hatte ich das Werkzeug beisammen, meinen Fantasy-Roman so zu schreiben, wie es mir vorschwebte. Das heißt, im Grunde schrieb ich einen High-Fantasy-Roman mit den Mitteln der SF und mischte ihn mit alten Erzähltraditionen, die ich in der Literatur des Mittelalters fand, und den Erzählmöglichkeiten der Gegenwart.
Das besondere an diesen Werken ist für mich, dass sie über die Jahrzehnte hinweg zu mir sprechen, ohne ihre Wirkung zu verlieren. Da sie sich – anders als Hard SF – mehr mit der Form des Erzählens und mit der Gesellschaft beschäftigen, werden sie nicht so schnell obsolet, wenn die Wissenschaft bzw. der technische Stand überholt ist. In Delanys Babel-17 (1966) ist die Wissenschaft zum Beispiel wegen der Verwendung der starken Form der Sapir-Whorf-Hypothese schon lange obsolet, aber die Hauptfigur, der Erzählstil, die Struktur, die Sprache und die Darstellung von Gesellschaft – das alles hält den Roman am Leben. Bei Hard SF, bei der die Wissenschaft gewissermaßen als Hauptfigur fungiert und alles andere leicht aus dem Fokus gerät, muss ich mit der Zeit über zu viele Dinge hinwegsehen. Sie wirken schnell weiter entrückt als viele Fantasyromane.
ZFF: In den letzten Jahren wird in der SF verstärkt von »Afrofuturism« als wichtigem Subgenre gesprochen und auch Delanys Name kommt da immer wieder vor. Wie stehen Sie zum Afrofuturism? Was macht er für Sie aus?
James Sullivan: »Afrofuturismus« ist mir als Begriff begegnet, der im Grunde afroamerikanische SF meinte. Als Mark Dery den Begriff in den früheren 1990er-Jahren einführte, gab es nicht annähernd die Diversität, die wir heute haben. Samuel R. Delany, Octavia E. Butler und andere hatten in den beiden Jahrzehnten zuvor gewissermaßen eine Tür geöffnet, durch die mehr und mehr Autor*innen of Color kamen und damit sichtbar wurden. Dabei ging es neben der Repräsentation von Schwarzen Menschen [1] in futuristischen Kontexten um die Frage, wer SF schreibt, und nicht so sehr um einen Afrikabezug der Texte. Inzwischen kennen wir durch Nnedi Okorafor den Begriff »Africanfuturism«, der einen expliziten Afrika-Bezug verlangt. Die Unterscheidung ist sehr hilfreich.
Ich betrachte mich als Teil des Afrofuturism – allerdings als einen weit entrückten Teil. Als Schwarzer Deutschamerikaner geht mein Afrikabezug von Deutschland aus und läuft über die USA. Dabei merke ich, dass ich über die USA – oder besser gesagt über die Geschichte der Sklaverei dort – einfach nicht hinauskomme. Das ist wie ein Gebirge, über das es keinen Pass gibt. Das bedeutet für mich, dass ich vor allem die Diaspora vor Augen habe.
Bei Afrofuturism steht für mich die Frage »wer schreibt?« im Zentrum. Meine Annahme ist, dass Schwarze Autor*innen wegen der Erfahrungen, die sie machen, anders schreiben. Das heißt nicht unbedingt, dass diese Erfahrungen in den Texten unmittelbar zu erkennen sein müssen. Die Fantasy und die SF bieten Marginalisierten die Möglichkeit, Erfahrungen zu verschlüsseln. Und selbst wenn sie diese Möglichkeiten nicht nutzen, bilden sich die Erfahrungen unbewusst ab. Deswegen ist bei vielen Marginalisierten zu beobachten, wie sie am Anfang noch sehr verfremdend über sich reden. Zum Beispiel hat Delany in seiner Erzählung »Aye and Gomorrah« (1967) verschlüsselt über seine Homosexualität gesprochen, ohne dass es (damals Ende der 1960er-Jahre) offensichtlich gewesen wäre. Die SF bot sich dafür an. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Marginalisierte Zeit benötigen, um sich selbst bzw. ihresgleichen (absichtlich) in den eigenen Werken sichtbar zu machen – insbesondere, wenn es in einem Genre geschieht, in dem man zu einer absoluten Minderheit gehört.
ZFF: Als Autor mit sowohl deutschen als auch (afro-)amerikanischen Einflüssen – wie würden Sie Ihr eigenes Schreiben in diesen Kontext einordnen? Sehen Sie sich in einer Tradition des Afrofuturism?
James Sullivan: Ich fühle mich dem Afrofuturismus oder besser allgemein einer Afrofantastik vor allem dort verbunden, wo es um Isolation, Fremdheitserfahrungen oder um Dislokation geht. Ich merke einfach, dass diese Themen immer wieder bei mir auftauchen und das widerspiegeln, was ich in der Realität erlebe. Mein Problem ist, dass ich hier in Deutschland ein wenig abseits des US-amerikanischen Afrofuturismus stehe, weil es kaum Schwarze Autor*innen in der deutschsprachigen Fantastik gibt. Das heißt, der Afrofuturismus fühlt sich einerseits sehr vertraut an, andererseits auch entfernt, weil die deutschsprachige Fantastik generell ein wenig abgelegen wirkt. Es ist nicht ganz einfach, das zusammenzubringen. Aber auch das spiegelt eine Erfahrung wider, die ich ständig mache: Das Gefühl gleichzeitiger Fremdheit und Vertrautheit. Viele fragen mich, ob ich als Schwarzer Deutschamerikaner das Gefühl habe, zwischen allen Stühlen zu sitzen. Genau das fühle ich nicht. Es ist ganz anders: Wenn ich in Deutschland bin, fühle ich mich als Amerikaner; in den USA bin ich sehr deutsch. Das heißt, meine Erfahrung ist die einer Fremdheit, die ich nur durch Familie, Freundschaften und einige andere Kontexte aushebeln kann, aber in der Öffentlichkeit ständig spüre – und natürlich insbesondere in einem Genre, das zwar selbst marginalisiert ist, aber eben auch wenig divers. Dieses Fremdheitsgefühl war für mich im Genre prägend. Deswegen fühle ich mich Delany und Butler nahe, die ebenfalls in einem sehr weißen Genre anfingen.
Am Anfang meiner Laufbahn als Schriftsteller war ich mir unsicher, wie sichtbar ich sein wollte. Sichtbar zu sein, heißt, sich angreifbar zu machen. So wird man in Die Elfen keine offensichtliche Abbildung von mir finden. Da gibt es keine Schwarzen Elfen, bei denen man sagen könnte: »Da bildet James sich ab!« Aber als Autor kann ich nicht anders, als abzubilden. Es geschieht, ob ich es will oder nicht. Das heißt, bei einer der Hauptfiguren des Romans, Nuramon, bilde ich meine Fremdheitserfahrungen ab. Im nächsten Roman, Der letzte Steinmagier, war ich immer noch nicht bereit, mich in Schwarzen Figuren zu repräsentieren. Aber ich schrieb damit einen Roman, der von meiner Rezeption chinesischer und japanischer Erzählwerke beeinflusst ist. Schwarze Rezeption asiatischer Werke ist nicht ungewöhnlich. Dass Schwarze Menschen sich zum Beispiel in den USA der 1970er-Jahre in den Martial-Arts-Filmen aus Hongkong wiedererkannten, verwundert mich nicht. Ich habe viele solcher Filme als Teenager (manche auch früher) in den 1980er-Jahren gesehen. Das waren die ersten Filme, in denen ich keine oder kaum weiße Figuren sah.
Von heute aus betrachtet, waren die Entwicklungsschritte, die ich beim Schreiben vollzog, eigentlich naheliegend, damals habe ich das nicht so klar gesehen. Nach Der letzte Steinmagier schrieb ich dann mit Nuramon einen Roman, der voller direkter Repräsentation ist. Außer der Hauptfigur Nuramon, die das Publikum vermutlich als weiß lesen wird, obwohl ich sie nicht so empfinde, sind alle Figuren Persons of Color. Als ich dann zur SF wechselte, gab es keine Hemmungen mehr. In Chrysaor ist die Hauptfigur eine Person of Color, sein sidekick ist Schwarz und seine Familie ist ebenfalls Schwarz. Hier kommt dann das zusammen, was Afrofuturismus im Allgemeinen ausmacht: Einerseits drückt es aus, dass Schwarze Menschen SF schreiben, andererseits zeigt es, dass Schwarze Menschen Teil der Zukunft sind. Das ist etwas, was in den 1960er- und 1970er-Jahren noch nicht selbstverständlich war. Ich muss dabei immer an das Gedicht »Whitey on the Moon« (1970) von Gil-Scott Heron denken, das einfach schonungslos deutlich macht, wie wenig Teilhabe Schwarze Menschen hatten. Dass futuristische Dinge einen Bezug zur eigenen Community haben, kann nur dann deutlich gemacht werden, wenn Schwarze Menschen in futuristischen Kontexten mitgedacht und sichtbar gemacht werden. Und das gelingt vor allem dann, wenn nicht nur Texte über Schwarze Menschen geschrieben werden, sondern vor allem, wenn Texte von ihnen geschrieben werden.
ZFF: Was bedeutet es für Sie, eine der ganz wenigen afrodeutschen Stimmen in der Fantastik zu sein? Sie haben mal bei Tor-Online über Ihre Sorge gesprochen, dass Sie immer als Token herhalten müssen, wenn es um die Repräsentation von Schwarzer Erfahrung geht – wie gehen Sie damit um?
James Sullivan: Einer der wenigen Schwarzen Autor*innen zu sein, hieß früher für mich, erst einmal zu prüfen, ob die Räume, die ich als Autor mit meinem Texten einnehme, safe sind. Das ist eine Erfahrung, die die meisten Marginalisierten machen. Sie prüfen erst einmal, ob sie sich sicher bewegen können. Inzwischen bin ich nicht mehr isoliert. Dadurch, dass ich mich selbst sichtbar gemacht habe, habe ich mich auch im Genre klar positioniert und fühle mich da in der progressiven Ecke der Fantastik ganz gut aufgehoben. Dennoch kann mir natürlich leicht das passieren, was vielen Marginalisierten passiert: dass ich auf meine Marginalisierung reduziert werde.
In dem Interview bei Tor-Online erwähnte ich das Beispiel einer Rezension des Romans Dungeon Planet (2018) von Tobias O. Meißner. Die Rezensentin kritisierte, dass Meißners Roman eine Schwarze Hauptfigur besitzt und Rassismus thematisiert. Meißner solle das Thema den Betroffenen überlassen, schrieb sie. Als ich das las, fragte ich mich, wer die Betroffenen seien, und kam zu dem Ergebnis, dass dort zu dem Zeitpunkt auch gut hätte stehen können: »Überlasst das James Sullivan«. Natürlich sind mehr Own-Voices-Werke wünschenswert, aber es kann nicht sein, dass nur wir als unmittelbar Betroffene uns um Diversität in Erzählwerken bemühen. Ich kann nicht so viel schreiben, wie nötig wäre, um eine angemessene Repräsentation zu schaffen. Es braucht alle, die mitmachen, und ich bin froh über jeden Text, der Menschen wie mich repräsentiert. Ich bin sogar daran interessiert zu lesen, wie andere Autor*innen Menschen wie mich abbilden. Insbesondere bin ich daran interessiert zu lesen, wie Menschen, die auf andere Weise marginalisiert sind als ich, Schwarze Menschen darstellen. Das heißt natürlich nicht, dass ich die Repräsentation von Schwarzen Menschen scheue, aber es heißt auch, dass nicht alles bei mir darauf ausgerichtet sein muss. Die Erwartung, dass alles, was ich mache, meine Marginalisierung im Fokus hat, ist übertrieben und blendet all das andere aus, das ich beitragen kann und ebenfalls durch meine Erfahrung geprägt ist. Auch ich möchte die ganze Bandbreite von Geschichten erzählen können und nicht nur das Spezialthema. Zum Glück bieten Romane genug Freiheiten und Komplexität, um über allerlei Themen zu sprechen.
Um das Problem von Repräsentation zu lösen, brauchen wir vor allem mehr Diversität in der Buchbranche. Das scheitert häufig bereits im Ansatz. Ich weiß noch, wie schwierig es für mich am Anfang war, Raum einzunehmen. Es fehlten mir in der deutschsprachigen Szene einfach die Vorbilder – Leute, zu denen ich schauen und mir denken konnte: Es ist also möglich, dass jemand wie ich Fuß fasst. Was ich damals nicht bedacht habe, weil ich es gar nicht für möglich hielt, war, dass ich selbst die Person sein könnte, zu der man schaut und sich sagt: Es ist möglich. Das ist mir erst in letzter Zeit klargeworden, weil Leute mich darauf angesprochen haben, dass meine Anwesenheit ihnen Mut macht. Und seither frage ich mich, ob ich mich vielleicht früher hätte sichtbar machen müssen.
ZFF:Lassen Sie uns etwas konkreter werden. Ihr Roman Die Stadt der Symbionten spielt nach einer Alien-Invasion in einer Stadt in der Antarktis, in die der Überrest der Menschheit geflüchtet ist. Die Stadt ist abgeschirmt und wird von Künstlichen Intelligenzen am Laufen gehalten, unterstützt von den Symbionten, die sich Interfaces in das Gehirn haben setzen lassen und mit Maschinen kommunizieren können. Doch die Symbionten sind nicht frei in ihren Entscheidungen, sie werden von den KIs manipuliert. Im Roman geht es dann vor allem um einen Machtkampf zwischen dem System der KIs und den Idealen der Freiheit. Ein solcher Kampf gegen ein dominantes System und das Gefühl der Unfreiheit – das sind Themen, die sich sehr wohl auf die Erfahrung Schwarzer Menschen in einem rassistischen System lesen lassen. Wie sehr ist der Roman geprägt von dieser Erfahrung?
James Sullivan: Einen direkten Bezug zu einem rassistischen System gibt es im Roman nicht. Es gibt dort keinen Rassismus (mehr). Aber der Widerstandskampf ist vom antirassistischen Aktivismus und dem Feminismus inspiriert – insbesondere dem Feminismus Schwarzer Frauen. Dabei zeigt sich das doppelte Spiel der Fantastik. Wir haben eine Erzählwelt, die in einer Zukunft spielt, in der es den Rassismus, wie wir ihn kennen, nicht mehr gibt. Es gibt, wenn man so will, eine andere Art von Rassismus – zwischen Maschinen und Menschen. Das ist kein System wie die Sklaverei, das durch ständige Gewalt aufrechterhalten werden muss. Im Grunde ist es eine Dystopie, die uns oberflächlich als Utopie erscheint. Die Menschen von Jaskandris ahnen nichts von den Manipulationen und der heimlichen Unterdrückung, die stattfinden. Es ist nicht nötig, mit Gewalt vorzugehen. Es ist längst ein System, das darauf setzt, dass Menschen, die es bequem haben und über Freiheiten verfügen, nicht an größeren Veränderungen interessiert sind. Das sind im Grunde unsere Demokratien, in denen Konservative von Werten sprechen, und wenn es dann auf diese Werte ankommt, sind sie schnell vergessen, weil man die Richter am Supreme Court bestimmen will oder weil die Ausübung der Werte das falsche Signal an jene senden würde, die aus Krisengebieten flüchten.
Der Aktivismus ist also klar abgebildet, aber im Zentrum stehen für mich Erkenntnisprozesse. Bei der Unterdrückung Schwarzer Menschen – insbesondere durch Sklaverei – brauchte es keinen Erkenntnisprozess. Es war immer klar, was gespielt wird. Gesellschaftlich sind wir aber schon lange an einem Punkt, an dem wir so tun, als wären Rassismus und andere »-ismen« mit persönlicher Diskriminierung gleichzusetzen. Und auf dieser Ebene wären Erkenntnisprozesse wünschenswert – vor allem innerhalb der Mehrheitsgesellschaft. In den USA wie auch in Deutschland arbeiten Schwarze Aktivist*innen seit Jahrzehnten daran, eine Diskussion über (strukturellen) Rassismus zu führen, und immer wieder scheitert es schon im Ansatz, weil es eine grundsätzliche Verweigerungshaltung gibt. Als aktuelles Beispiel können wir die Forderung aus der Black Community in Deutschland nehmen, die nach George Floyds Tod auch hier wegen zahlreicher Vorfälle eine unabhängige Studie zu Rassismus verlangte. Die Reaktion darauf war mehr als abweisend. Was es braucht, ist die Erkenntnis, dass es um strukturelle Dinge geht und nicht um Einzelfälle. An diese Art des Aufwachens, des Erkennens habe ich beim Schreiben des Romans gedacht. Ob das nun so gelesen wird, ist natürlich eine andere Frage.
ZFF: Im Roman folgt dann eine Revolte gegen das System, angeführt von Nelmura, einer Schwarzen Frau, die die Wahrheit erkennt und andere Symbionten aus der KI-Kontrolle befreit. Die meisten anderen Figuren im Roman sind allerdings weiß, gerade auch die beiden hauptsächlich fokalisierten jungen Symbionten Gamil und Yaldira. Warum diese Entscheidung? Haben Sie das Gefühl, dass die deutsche SF das nicht leisten kann oder dass Sie damit zu sehr in eine Ecke geraten würden?
James Sullivan: Die deutsche SF kann das sehr wohl leisten. Ich habe ja auch in Chrysaor und Die Granden von Pandaros Schwarze Figuren und andere Persons of Color ins Zentrum gesetzt. Dabei gab es von Verlagsseite nie auch nur einen Ansatz von Unbehagen über die Wahl meiner Figuren. Zumindest wurde mir gegenüber nichts dergleichen geäußert. Da ich aber von anderen Schwarzen Autor*innen außerhalb des Genres hörte, dass ihre Schwarzen Hauptfiguren als Problem betrachtet wurden, habe ich vielleicht einfach nur Glück gehabt.
Hätte ich Gamil und Yaldira als Schwarze Figuren haben wollen, wäre das erst einmal kein Problem gewesen. Innerhalb der Erzählwelt spielt es wegen der Abwesenheit des Rassismus, wie wir ihn kennen, im Grunde keine Rolle. Aber gerade die Fantastik muss sich immer mit der Diskrepanz der dargestellten Welt zur Wirklichkeit auseinandersetzen. Im Gegensatz zu der Zukunft, die im Roman dargestellt wird, gibt es in unser gegenwärtigen Wirklichkeit Rassismus. Da stellt sich die Frage, ob ich wirklich Schwarze Figuren darstellen möchte, die sich ihrer Unterdrückung erst bewusst werden müssen. Ich empfand das als problematisch. Hinzu kommt, dass das mir Ende des Romans, auf das wir ja noch im Spoiler-Teil eingehen wollen, Bauchschmerzen bereitet hätte, wenn die Hauptfiguren Schwarz gewesen wären.
Bei Nelmura, die im Grunde der Kopf des Widerstands ist, war es mir hingehen wichtig, dass sie eine Schwarze Frau ist, an der wir viel von dem beobachten können, was wir vom Schwarzen Aktivismus her kennen. Sie ist diejenige, die weiß, welches Spiel das System spielt, und sie macht Gamil und dann auch Yaldira darauf aufmerksam. Sie ist diejenige, die die Werkzeuge liefert, um gegen das System vorzugehen. Das heißt, auch wenn ich nicht bereit war, Schwarze Figuren als jene zu präsentieren, die plötzlich die Unterdrückung erkennen, war es mir wichtig, dass Schwarze Figuren den unausweichlichen Kampf kämpfen und bereits mit Erfahrung dabei sind.
ZFF: Der Roman legt nahe, dass das Leben in Jaskandris ziemlich utopisch abläuft –abgesehen von der räumlichen Begrenzung in der Kuppel mangelt es den Menschen eigentlich an nichts. Die Technologie und die Steuerung durch die KIs erlauben den Menschen ein sehr angenehmes Leben ohne die Notwendigkeit körperlicher Arbeit. Glauben Sie, dass wir auf eine Techno-Utopie hinauslaufen, wenn wir Arbeit an KI abgegeben? Wie sieht die Arbeit der Zukunft aus?
James Sullivan: Wir sollten zumindest als Ziel formulieren, dass wir das Überleben von Menschen irgendwann nicht mehr davon abhängig machen, ob sie arbeiten oder nicht. An Ideen wie dem bedingungslosen Grundeinkommen sollten wir festhalten. Natürlich ist das alles noch eine Utopie, aber wenn immer weniger Menschen am Erfolg unserer Gesellschaften teilhaben, werden wir so oder so von der Vorstellung wegkommen müssen, dass wir uns die Grundbedürfnisse verdienen bzw. unsere Existenz rechtfertigen müssen.
Auf der technischen Seite ist das Meiste wahrscheinlich möglich. Ich denke da weniger an echte Künstliche Intelligenzen als an Roboter und an Programme, die uns eine Menge Arbeit abnehmen – nicht wegnehmen. Statt eine solche Entwicklung immer wieder als feindliche Übernahme zu framen, würde ich es als Befreiung inszenieren und die Frage stellen: Wie kommen wir dahin, ohne dass das System auf Ausbeutung basiert? Das Problem ist in meinen Augen nicht, ob wir Roboter und andere Technologien irgendwann so weit haben werden, dass sie uns die Arbeit abnehmen können, sondern vielmehr die Frage, wie wir all das schaffen, ohne das Klima zu ruinieren und Menschen auszubeuten.
ZFF: Ein Konzept im Roman ist die »Überbevölkerung« von Jaskandris, die vor allem durch den Tiefenschlaf gelöst wird; Menschen werden eingefroren und führen dann ein Leben in virtuellen Welten. Das geht soweit, dass viele in die Tiefen abdriften und gar nicht mehr aufwachen wollen. Das Konzept des »Uploads« in virtuelle Welten ist relativ häufig in der SF anzutreffen. Was denken Sie dazu? Das Konzept gilt unter Transhumanisten ja als erstrebenswert.
James Sullivan: Vom Transhumanismus halte ich überhaupt nichts. In meinen Augen geht es dabei vor allem darum, dass reiche Menschen (meistens Männer) nicht mit ihrer Sterblichkeit zurechtkommen. Und so sehr Schritte in diese Richtung zum Träumen anregen: es sind die Träume von Milliardären. Technologie sollte meiner Meinung nach das Menschliche in uns hervorheben, uns entlasten und möglichst vielen zugänglich sein. Bei der Vorstellung eines Uploads gibt es zudem ein grundsätzliches Problem: Es wird zu selten berücksichtigt, dass es einen Unterschied macht, von welcher Seite man auf Uploads bzw. Kopien von Menschen blickt. Aus der Sicht derer, die mit dieser Person interagieren, würde es so erscheinen, als würde das Original sprechen, weil sich das Upload-Ich wie erwartet verhält. Für das Original aber stellt sich das ganz anders dar. Mit dem Upload-Ich konfrontiert hätte man vielleicht die Gewissheit, dass eine Art Kopie weiterleben kann, man selbst wäre aber immer noch ein Mensch. In der SF lässt sich diese Konfrontation so lösen, dass man die Kopie in einen künstlichen Körper hochlädt, dazu aber den alten Körper aufgeben muss. Für mich wäre das eine Horror-Vision. Es hieße, sterben zu müssen, damit eine Kopie weiterleben kann. Da aber niemand den Unterschied bemerkt, erscheint es so, als würden die hochgeladenen Personen weiterleben. Als Vater finde ich das Konzept, dass mit meinen Kindern eine von mir beeinflusste neue Generation weiterlebt, viel interessanter.
Zudem habe ich Zweifel, dass ein Upload technisch je möglich sein wird; und selbst wenn es so sein sollte, wird es meiner Meinung nach wenig erstrebenswert sein. Dennoch kann man mit Unsterblichkeitskonzepten interessante Geschichten erzählen – gerade wenn es darum geht, wer davon profitiert, mit welchen Privilegien die einen leben, während die anderen marginalisiert werden. Uploads eignen sich als Großmetapher für so vieles, dass wir in der fantastischen Literatur noch eine ganze Weile damit zu tun haben werden. Schleichend werden Teilkonzepte daraus Realität. Wir sollten dabei aber nicht den Fokus aus den Augen verlieren. Diesen Ideen begegnen wir zwar gerne auf individueller Ebene, aber sie sind in ein System eingebettet, das nur wenigen nützt. Das sind genau die Ansätze, die zu einer Dystopie führen: dass es so erscheint, als wäre das System unveränderlich und als könne man nur die Träume von Milliardären träumen.
ZFF: Als Wissenschaftler fand ich einen Aspekt ganz besonders interessant: die Stadt Jaskandris wird politisch und sozial von den Fakultäten geleitet, die man am ehesten als Geisteshaltungen oder philosophische Strömungen bezeichnen kann, die aber sehr konkrete materielle Ausrichtungen haben und etwa für Verteidigung (Michiko) oder Exploration (Yardeniden) stehen. Hier sind ganz deutlich akademische Konzepte zu erkennen – Fakultäten bilden aus, betreiben Forschung, haben starke Hierarchien –, die aber ins Militärische abdriften: die Fakultäten führen Kriege gegeneinander und schmieden Allianzen und Ränke. Warum diese akademischen Strukturen? Ist das utopisches Denken? Oder ein Gegenpol zum Anti-Intellektualismus der heutigen Zeit?
James Sullivan: Das ist sicherlich eine Mischung aus den Erfahrungen meines Studiums und einem Fantasy-Einfluss. Eine frühe Idee von Die Stadt der Symbionten war eine Fantasy-Idee: die Stadt eines Nomadenvolkes, das gezwungen ist auszuharren, während Späher nach neuen Wegen durch eine unwirtliche Welt suchen. Da dachte ich an Magier-Akademien mit verschiedenen Spezialgebieten, wie sie in der Fantasy häufiger vorkommen; vermutlich auch in Anlehnung an den Universitätsbetrieb. Ich merkte aber irgendwann, dass ich es mit zwei Geschichten zu tun hatte: die einer Kuppelstadt und die eines Nomadenvolkes, das von Welt zu Welt zieht. Die Kuppelstadt schrie nach einer SF-Geschichte, insbesondere wenn ich den Tiefenschlaf hinzunehme und dann virtuelle Welten ins Spiel kommen. Die Fakultäten könnte man also als Spuren einer älteren Idee auffassen. Für mich ist das ein Aspekt des Romans, mit dem sich gut Interessengruppen darstellen lassen, die über eigene Ziele und eigene Fähigkeiten verfügen.
Auf utopischem Denken basieren die Fakultäten nur in der Grundlage. Die große Zeit der Archonten, die die Fakultäten begründeten, könnte man mit dem Pioniergeist der 1970er-Jahre im Computer-Bereich vergleichen, als nicht die großen Unternehmen die Entwicklung prägten, sondern Einzelne und kleine Teams. Ich denke da weniger an Bill Gates oder Steve Jobs, sondern an die Bastler jener Zeit: an Steve Wozniak, der beschloss, seinen eigenen Computer zu bauen. Der Fokus bei der Geschichte von Apple liegt immer auf Steve Jobs, aber wenn man sich ein bisschen mit der zugrundeliegenden Technik auskennt, sieht man einen besonderen Spirit in den Designs von Wozniak. Zum Beispiel der Gedanke der Teilhabe, als Computer in die Haushalte Einzug hielten. Der Spirit, dass Communities sich ihre eigenen Tools schaffen und teilen, ist in der Konsumgesellschaft untergegangen, lebt aber immerhin in der Open-Source-Gemeinde weiter. An solche Dinge habe ich bei den Fakultäten gedacht. Die Archonten schlafen und damit schlafen auch ihre Vorstellungen von Kooperation und Teilhabe, und viele werden ihren ursprünglichen Werten gegenüber untreu. Nelmura stellt fest, dass nicht nur ihre eigene Fakultät nur noch wenig mit ihren ursprünglichen Vorstellungen zu tun hat; sie merkt auch, dass das ganze System faul ist.
Achtung, die folgenden Fragen und Antworten sind Spoiler des Romans Die Stadt der Symbionten. Bitte beachten!
ZFF: Am Ende des Romans stellt sich heraus, dass die Maschinen die Menschen nur als Prozessoren nutzen. Dahinter steckt natürlich ein wenig die Idee aus The Matrix (US 1999, Regie: Andy Wachowski und Larry Wachowski), Menschen auf ihre biomechanischen Energie zu reduzieren und als Biomasse zu nutzen. Das ist gerade in Hinsicht auf die Ausbeutung von Menschen im Kapitalismus und angesichts der Covid-Diskussionen um »essenzielle Arbeit« recht harsch. Diese kritische Position steht im Kontrast zu den utopischen Momenten, dass in Jaskandris niemand einen Job braucht und Geld keine Rolle spielt. Wie kommt diese Wendung im Roman? Was steckt dahinter?
James Sullivan: Es geht im Roman um Menschen, die aus dem Tiefenschlaf, in dem sie ausgebeutet werden, erwachen und wie Nelmura die Wahrheit erkennen, aber auch um Menschen, die wach sind, aber die Augen vor der Wirklichkeit verschließen, weil sie sich ein relativ bequemes Leben eingerichtet haben. Im Grunde kennen wir das. Wir wissen, dass unser Wohlstand auf der Ausbeutung anderer basiert. Wir messen den Wert von Arbeit nicht an dem Nutzen für die Gesellschaft. Wie viele haben am Anfang der Corona-Pandemie dem medizinischen Personal applaudiert, und wie wenig drückt sich dies in einer Wertschätzung aus, die dessen Lebensqualität verbessern würde?
Der Roman baut erst einmal eine Utopie auf, die aber nur an der Oberfläche existiert, da sie in Wirklichkeit auf Ausbeutung basiert. Es geht darum, diese Ausbeutung zu erkennen, dagegen vorzugehen, sie auszuschalten und die Utopie auf eine ehrliche Grundlage zu stellen. Das ist im Grunde das, was uns bevorstehen könnte. Wenn wir eine Welt wollen, in der Menschen nicht arbeiten, um zu überleben, sondern weil sie einen Beitrag zur Gesellschaft leisten können, für den sich die Gesellschaft revanchiert; dann müssen wir überlegen, wie wir die Ausbeutung loswerden. Wir müssen über den Kapitalismus und seine Beziehung zur Demokratie sprechen.
Das heißt, diese Wendung im Roman, die durch Erkenntnis vorbereitet wird, beschreibt den Punkt, an dem uns klar wird, dass wir in einem problematischen System leben, aber nicht in Ignoranz verfallen, sondern nach Wegen suchen, die Ausbeutung zu beenden. Eine Utopie, die nur wenigen dient, ist eine Dystopie.
ZFF: Noch drastischer ist die letzte Volte des Romans, wenn klar wird, dass die Menschen und Jaskandris gar nicht in der Antarktis der Erde beheimatet, sondern auf einem fremden Planeten abgestürzt sind. Dass die Invasoren immer wieder biologisches Leben ausbeuten: einen Planeten ausrauben und dann weiterziehen. Das ist natürlich ein direkter Bezug zum Kolonialismus und dem Raubbau an natürlichen Ressourcen der Europäer –, etwa in Afrika. Damit erhält der Roman am Ende eine Art rückwirkende Politisierung, die zuvor nicht erkennbar war. Beziehen Sie den Roman auf Kolonialismus, Sklaverei und Ausbeutung? Wieso wirkt das erst so spät im Roman?
James Sullivan: Es ist in jedem Fall eine Politisierung. Das Ende soll all das, was vorher war, in einem anderen Licht erscheinen lassen. Die Idee war, dass die Figuren, die die ganze Zeit dachten, sie wären die Opfer des Systems, erkennen, dass sie gleichzeitig Teil einer Kolonialmacht sind. Sie sind unterdrückt, und stellen fest, dass sie die ganze Zeit dabei geholfen haben, andere auszubeuten.
Das erklärt auch, warum ich mich dazu entschieden habe, mit Gamil und Yaldira keine Schwarzen Hauptfiguren zu haben. Da zur Unterdrückung kein Rassismus verwendet wurde, fühlte ich mich unwohl mit der Vorstellung, dass Schwarze Hauptfiguren am Ende erkennen, dass sie zu einer Kolonialmacht gehören. Das wäre in Ordnung gewesen, wenn die Unterdrückung aufgrund rassistischer Strukturen, wie wir sie kennen, stattgefunden hätte. So war es aber nicht. An der Stelle überschneiden sich wieder einmal die Verhältnisse in der Erzählwelt mit denen in der Wirklichkeit. In der Erzählwelt gibt es keinen Rassismus, aber die Leser*innen leben in einer Welt, die voll ist von (systemischem) Rassismus. Das gilt es gerade an dieser Stelle des Romans auszubalancieren. Mir erschien es passend, dass die beiden Hauptfiguren weiß sind, ich dann aber mit Nelmura dennoch eine Schwarze Figur habe, die klarmacht, dass auch Schwarze Teil dieser Kolonialmacht sind.
Dass ich das alles so spät im Roman offenlege, ist erst einmal einem erzählerischen Zwang geschuldet. Sobald ich angedeutet hätte, dass das da draußen nicht die Erde ist, sondern ein anderer Planet, und die Menschen, ohne es zu wissen, Teil einer Kolonialmacht sind, hätte ich den Fokus verschoben. Wenn die Welt da ist und in ihr andere menschliche Wesen unterdrückt werden, dann möchte ich als Leser natürlich etwas darüber erfahren. Mit der Kuppelstadt etabliere ich aber eine Isolation, die ich nicht zu früh aufgeben wollte. Ein gutes Beispiel dafür, was die Folge gewesen wäre, kann man bei der Serie The Handmaid’s Tale (US 2017– , Idee: Bruce Miller) beobachten. In Margaret Atwoods Roman sehen wir die Erzählwelt durch den Blick der Protagonistin Offred. Alles ist durch ihre Perspektive gefiltert, und wir können der Situation nicht entkommen. In der Serie aber gibt es szenische Rückblenden auf die Zeit vor dem Umsturz, der zur Dystopie führte. Da sehen wir plötzlich Leute, deren Perspektive nicht im Zentrum steht, und wir erleben sogar mit, dass einige Figuren dem Schreckenssystem von Gilead entkommen sind und sich in Kanada befinden. Auf einer reinen Informationsebene ist das natürlich interessant, aber es läuft der Idee zuwider, dass wir durch Offred die erstickende Enge des Systems miterleben.
So ähnlich ist es auch bei der Frage, warum ich die Wendung erst ganz am Ende offenlege. Der ganze Roman spielt in und um Jaskandris – in der Antarktis, also in einer scheinbar kontextlosen Umgebung. Erst in dem Augenblick, in dem der Konflikt mit den KIs gelöst ist, kann ich den Blick schweifen lassen. Ich hätte am Ende natürlich eine Erde zeigen können, die nicht verseucht ist; ich hätte andere Städte wie Jaskandris zeigen und damit erklären können, dass die KIs auch anderswo Menschen unterdrücken und die Jaskandrier nicht so einzigartig sind, wie sie glaubten. Dass ich mich aber für die Idee entschied, dass Leute aus ihrer Heimat entführt werden, um anderswo ein System am Laufen zu halten, ist mit Blick auf meinen Hintergrund als Schwarzer US-Amerikaner wieder ein Beispiel dafür, dass sich einige Themen immer wieder in meine Texte hineinschleichen.
[1] Die Selbstbezeichnung »Schwarz« wird großgeschrieben, um ihre kulturelle Konstruiertheit zu unterstreichen.
Ursprünglich erschienen in der Zeitschrift für Fantastikforschung
Schmeink, Lars. “Das Gefühl von Vertrautheit und Fremdheit. Interview mit James Sullivan”, Zeitschrift für Fantastikforschung 9.1 (2021). doi: https://doi.org/10.16995/zff.4388