The Oxford Handbook of Science Fiction
Latham, Rob, Hg. The Oxford Handbook of Science Fiction. Oxford: Oxford UP, 2014.
„[T]he world has grown into sf“ (1), schreibt Istvan Csicsery-Ronay, Jr. und verweist damit auf eine veränderte Haltung gegenüber der Science Fiction (SF), die nicht vom Genre selbst ausgeht, sondern von der sich radikal wandelnden Welt selbst. Statt die SF als vulgäres und belangloses Unterhaltungsgenre abzutun, attestiert Csicsery-Ronay ihr eine über die Literatur weit hinausgehende Funktion eines „essential mode“ von Wahrnehmung, der nötig ist, um in der heutigen Zeit die menschliche Existenz zu verstehen – SF verfüge über eine „mass social energy“ (ebd.), die Menschen zu zukunftsorientiertem, fortschrittlichen Denken inspiriere.
Die SF hat damit einen weiten Entwicklungsweg zurückgelegt, der sich auch in einem breiteren Verständnis der wissenschaftlichen Disziplin widerspiegelt, die sich mit der Science Fiction beschäftigt. Wo in den 1970er, 1980er und selbst den 1990er Jahren die SF noch Steckenpferd weniger Literatur- und MedienwissenschaftlerInnen war, die ihre Hauptforschungsgebiete in anderen, renommierteren Feldern sahen, da hat sich in den letzten Jahren die Auseinandersetzung mit der SF und deren Relevanz für andere fachliche Disziplinen explosionsartig ausgebreitet. Gerade die Entwicklung der sogenannten Technoculture-Studies oder auch der Science and Technology Studies als Fusionsgebiete von Geistes- und Naturwissenschaften sind aus naheliegenden Gründen eng mit der SF verbunden. Entsprechende universitäre Fachdisziplinen sehen die SF nicht mehr als trivialliterarisches Balg der Groschenhefte des frühen 20. Jahrhunderts, sondern als vielseitige und inspirierende kulturelle Reflexion einer sich ausbreitenden, generellen Haltung gegenüber Technologie und Fortschritt.
Dass ausgerechnet Prof. Rob Latham von der University of California Riverside (UCR) von Oxford University Press damit beauftragt wurde, das Oxford Handbook of Science Fiction herauszugeben, dürfte dementsprechend wohl kein Zufall sein. Seit 2007 nämlich leitet Latham den Studiengang Science Fiction and Technoculture Studies, der – zusammen mit der bibliothekarischen Kompetenz der Eaton Collection – die UCR zu einem der wohl wichtigsten Zentren derzeitiger Science-Fiction-Forschung gemacht hat. Wie im Studiengang fokussiert Latham auch im Handbuch die SF nicht als „isolated aesthetic formation“ (5), sondern betrachtet sie als wichtigen Bestandteil der ‚technokulturellen Realität‘: „The scope of SF’s sociocultural influence has never been greater, almost keeping pace with the magnitude of technological change itself“ (6).
Sein Handbuch zur Science Fiction ist folglich nicht an einer Aufbereitung der literargeschichtlichen Entwicklung des Genres oder der kulturtheoretischen Debatten um den intellektuellen Wert der SF interessiert. Zwar finden sich in den einzelnen Beiträgen auch diese Aspekte wieder, sie stehen aber nicht als ordnendes Prinzip im Vordergrund – ganz im Gegensatz zu bislang maßgeblichen Handbüchern wie dem Routledge Companion to Science Fiction (2009, Hg. Mark Bould, Andrew Butler, Adam Roberts und Sherryl Vint), dem Cambridge Companion to Science Fiction (2003, Hg. Edward James und Farah Mendlesohn) oder dem Companion to Science Fiction (2005, Hg. David Seed). Stattdessen erhebt Latham die verschiedenen Modalitäten der SF zum strukturierenden Moment des Handbuchs, um so der Einsicht gerecht zu werden, dass die SF heutzutage nur bedingt ein literarisches Genre ist und eher als „a way of being in the world“ (6) verstanden werden sollte. Seine 44 Kapitel addieren sich zu vier größeren Teilgebieten: „Science Fiction as Genre“, „Science Fiction as Medium“, „Science Fiction as Culture“ und „Science Fiction as Worldview“.
Nur das erste, „Science Fiction as Genre“, beschäftigt sich maßgeblich mit der SF-Literatur. Aber auch in diesem Abschnitt gehen die Betrachtungen der einzelnen Kapitel über den historischen oder theoretischen Überblick hinaus und beleuchten zudem Konzepte und Aspekte des SF-Genres, die erst in den letzten Jahren in den Fokus der Forschung gerückt sind. Am konservativen Ende des Spektrums stehen hier Analysen wie im Kapitel „Extrapolation and Speculation“, in dem Brooks Landon den beiden zentralen Begriffen der Theoriedebatten um die Plausibilität der SF nachspürt, oder der historische Abriss der ökonomischen Realitäten des literarischen „Marketplace“ (von Gary Westfahl), aus dem sich die SF des 20. Jahrhunderts maßgeblich generiert hat. Am progressiven Ende des Spektrums jedoch findet sich in diesem Abschnitt etwa eine Untersuchung des Einflusses von „Fandoms“ (so der Titel von Farah Mendlesohns Kapitel) für die literarische Entwicklung und den Erfolg der SF als Genre (bereits seit den 1930er Jahren). Hervorzuheben ist hier auch Veronica Hollingers Essay zur Frage „Genre vs. Mode“, in dem sie postuliert, dass sich SF und Realität ineinander derart verwoben haben, dass SF als Modus die „privileged perspective on technoscientific reality“ (148) widerspiegele und somit die kulturelle Konstruktion unseres Lebens mitbestimme.
Und damit eröffnet sich eines der Probleme dieser Struktur, denn Hollingers Ausführungen beginnen zwar noch mit ‚SF als Genre‘, enden aber deutlich stärker in der Rubrik ‚SF als Anschauung‘. Nicht alle Zuordnungen von Artikeln zu einzelnen Abschnitten lassen sich immer nachvollziehen, und letztlich sind auch die Themen der Artikel in Teilen kritisch zu hinterfragen. Der zweite Abschnitt, „Science Fiction as Medium“ ist hier ein gutes Beispiel, versammelt er doch nachvollziehbare Medien wie „Film“ (von Mark Bould), „Video Games“ (von Pawel Frelik) oder „Comics“ (von Corey Creekmur). Andererseits bietet er mit „Performance Art“ (von Steve Dixon) einen Artikel, bei dem zum einen die Einordnung in die Kategorie ‚Kultur‘ sinnvoller erscheint und der zum anderen die Frage aufwirft, warum dieser recht kleine und schwer zugängliche Kunstbereich einem weit wichtigeren und deutlich prägnanteren für die SF vorgezogen wird – Performance hätte als Wesenszug des Theaters im Handbuch Einzug finden müssen, insbesondere angesichts etwa der Rolle Karel Čapeks in der Erschaffung der zentralen SF-Trope des Roboters, aber auch da sich aktuelle Forschung mit dem Themengebiet intensiver beschäftigt. Ein Abschnitt, der diesem ‚Medium‘ gerecht wird, fehlt allerdings völlig.
Eine ähnliche Kritik könnte man hier an dem ‚Medium‘ „Theme Parks“ (von Leonie Cooper) anbringen, dessen Zuordnung zur Medialität wohl nicht unproblematisch ist und das zugleich die Frage aufwirft, warum Conventions, Fan-Art und Cosplay im Handbuch nicht vorkommen, bzw. nur unter ‚Genre‘ in Mendlesohns Essay zum Einfluss der Fans auf die Literatur angerissen werden. Natürlich ist die Einteilung in Kategorien in einem solchen Handbuch zu einem gewissen Grad willkürlich und auch die Einschränkung der Themengebiete muss irgendwann einfach entschieden werden – dennoch bleibt für den Leser in einigen Punkten eben doch die Frage, welche Aussage über die SF getroffen wird, wenn einem Themengebiet ein Essay gewidmet ist, ein anderes aber nicht vorhanden ist.
Im Abschnitt „Science Fiction as Culture“ ist die Willkür der Themenauswahl am deutlichsten spürbar. So erhält etwa relativ gut nachvollziehbar „The Culture of Science“ ein Kapitel, in dem Sherryl Vint ein Plädoyer für die Bedeutung der SF-Imagination für die Aufarbeitung wissenschaftlichen Fortschritts in unserer Gesellschaft hält:
The best SF can function as a supplement to the official discourses of science. […] First it is a barometer of contemporary cultural anxieties and preoccupations [… and second,] it helps to remember that science does not exist in a vacuum but is produced by, and in turn shapes, a contingent, malleable, complex social world. (314f.)
Weitere Themenkomplexe, die unter ‚Kultur‘ abgehandelt werden, sind etwa „Automation“ (von Roger Luckhurst), „Military Culture“ (von Steffen Hantke) oder auch „Cyberculture“ (von Thomas Foster) – wobei letzteres Kapitel hauptsächlich philosophische Aspekte des kybernetischen Transhumanismus abdeckt, dabei aber stark auf die literarische Imagination des Cyberpunk zurückgreift. Diese Konzentration auf ein Subgenre – die sonst im Handbuch so gut wie nicht erfolgt – ist hier, wie auch im Kapitel „Retrofuturism and Steampunk“ (von Elizabeth Guffey und Kate Lemay), vor allem der starken Ausprägung einer kulturellen Formation jenseits literarischer oder cineastischer Medien zu verdanken.
Deutlich weniger nachvollziehbar ist hingegen, warum ein ganzes Kapitel der „Body Modification“ gewidmet wird, bezieht sich Autor Ross Farnell doch vor allem ebenfalls auf den Cyberpunk als Entwicklungspunkt für diese Subkultur und verwebt dies dann mit Verweisen auf den kulturellen Bereich der „Sexuality“ – ein Themenkomplex, der im Handbuch einen eigenen Eintrag hat (von Patricia Melzer). Warum also die Markierung der „Body Modification“ als eigenständige Ausformung? Die Wahl erscheint – wie gesagt – willkürlich, insbesondere angesichts der Tatsache, dass der komplexe Themenbereich zu UFO-Sichtungen und dem Glauben an Außerirdische lapidar mit verschiedenen SF-Religionen zusammengewürfelt wird („UFOs, Scientology, and Other SF Religions“ von Gregory Reece).
Im letzten Abschnitt, „Science Fiction as Worldview“, finden sich dann wieder deutlich mehr Essays, die man in einem Handbuch zur SF erwarten würde und die Hollingers Aussage gerecht zu werden versuchen, dass „contemporary reality and science fiction have become inextricably bound up with each other“ (148). Mehr noch, die Essays zeigen auf, inwieweit dies nicht nur heute der Fall ist, sondern vielmehr schon seit der Aufklärung (vgl. „The Enlightment“ von Adam Roberts) in vielen Bereichen unserer Kultur beobachtet werden kann. Vom viel diskutierten Gothic-Ursprung der SF („The Gothic“ von William Hughes) über die Verbindung zur Evolutionstheorie („Darwinism“ von Patrick Sharp) bis hin zum Utopianismus („Utopianism“ von Phillip Wegner) ist hier einiges vertreten. Die moderne Seite der SF-Einflussnahme auf Weltanschauung ist dabei durch „Afrofuturism“ (von De Witt Douglas Kilgore) und „Posthumanism“ (von Colin Milburn) vertreten.
Insgesamt ist das Oxford Handbook of Science Fiction ein wichtiger Beitrag zur Entwicklung und Konsolidierung der Science Fiction Studies – wenn auch konzentriert im anglo-amerikanischen Raum. Einige Artikel (in Auswahl, Zuordnung und Inhalt) mögen dabei umstritten sein – aber gerade das macht ihre Inklusion an dieser Stelle so bedeutsam. Für den deutschsprachigen Raum könnte das Handbuch als Anlass gesehen werden, den Status der SF in der Forschung neu zu evaluieren und über bestehende Bewertungen hinauszudenken. Die Science Fiction hat sich weiterentwickelt: medial, philosophisch, kulturell. Es liegt also nun an uns dieser Entwicklung Rechnung zu tragen und die Forschung hierzu auszudehnen.
Zitierte Werke
Csicsery-Ronay, Jr., Istvan. The Seven Beauties of Science Fiction. Middleton: Wesleyan UP, 2008.
Im Original erschienen in der Zeitschrift für Fantastikforschung.
Schmeink, Lars. “Rob Latham: The Oxford Handbook of Science Fiction.” Zeitschrift für Fantastikforschung 5.1 (2015): 176-79.
Hier der Download als PDF >>> Review Latham