Jeder an seinen Platz…

Die klassische Dystopie, wie sie etwa George Orwell mit 1984, Jewgeni Samjatin mit Wir oder Margaret Atwood mit Der Geschichte der Magd im 20. Jahrhundert geschrieben haben, ist aktuell nicht die dominante Form der Dystopie. Vielleicht liegt es an der von ihr vermittelten pessimistischen, gar nihilistischen Botschaft, dass es aus der dystopischen Gesellschaft kein Entkommen gibt.

Oder aber die Jugend-Revolutionen in modernen und mit Happy End versehenen Welten wie Suzanne Collins Die Tribute von Panem oder Die Bestimmung von Veronica Roth üben doch einen zu großen Reiz auf das sich nach Systemumsturz sehnende Publikum. Vielleicht liegt es auch daran, dass wir uns schleichend so sehr an totalitäre Systeme mit Dauerüberwachung (Facebook, NSA) oder wiederkehrende repressive Normen (Instagram, #metoo) gewöhnt haben, dass es unmöglich scheint überhaupt noch Schockmomente zu generieren. Dabei ist für mich die Aussage klassischer Dystopien, dass man sich der Anfänge erwehren muss, um nicht vom System überrannt zu werden auch heute noch so relevant, dass ich mit Schaudern den Stiefel erinnere, der Winston in 1984 immerwährend ins Gesicht tritt oder voller Angst aufschrecke, weil von Offred nur ein paar Tonbänder als Zeuge ihres Widerstands übrig bleiben.

Theresa Hannig scheint die selbe Angst umzutreiben, hat sie doch mit Die Optimierer eine Dystopie vorgelegt, die den Klassikern des Genres weit näher kommt als den heute so beliebten Varianten der Jugendliteratur. Aber vielleicht tue ich Frau Hannig auch unrecht und sie möchte ihren Roman interpretatorisch offenhalten, sieht in der beschriebenen Welt das Potential für eine bessere als die unsere. Der Unterschied zwischen Dystopie und Eutopie ist jedenfalls angesichts heutiger technologischer Errungenschaften nur sehr klein und liegt im Zweifel im Auge des Betrachters. Schließlich sehen viele Menschen in Aldous Huxleys Schöner Neuer Welt durchaus einen Reiz: ein Leben im Rausch von Drogen, Sex und Unterhaltungsmedien kann ja auch vorteilhaft gedeutet werden. Bei den Optimierern jedenfalls ist die Welt auch augenscheinlich deutlich besser als die unsere. In der relativ jungen Bundesrepublik Europa läuft nämlich alles nach von Algorithmen bestimmten Plan – „Jeder an seinem Platz!“ – der vom System dank Vollüberwachung aus den individuellen Fähigkeiten jeder Person berechnet wird. Damit sich jede*r auch gut beraten an diesen Platz begibt, gibt es Lebensberater wie Samson Freitag. Freitag ist ein loyaler und aus ganzem Herzen überzeugter Verfechter der Optimalwohlökonomie, die für alle Bürger ein Optimum an Lebensqualität als Grundprinzip ansetzt. Dank neuer Technologien ist all das auch möglich: Linsen überwachen jede Interaktion und speichern diese zur Analyse des Optimalwohls und zur Vergabe von Sozialpunkten, die das miteinander regeln. Sowohl Straßen- als auch Sexualverkehr sind der Logik des Systems übergeben, das für jede*n Transportmöglichkeit und gewünschte Partner findet. Und die Umwelt ist gerettet, da man nur noch solar-elektrisch und kommunal fährt und den Ressourcen vernichtenden Fleischkonsum verboten hat – Synthfleisch als moralisch-erhabener Ersatz. Eigentlich das ideale schöne neue Leben.

Als Freitag aber der jungen Martina Fischer die Tätigkeit der „Kontemplation“ zuweist, weil der Staat keine Verwendung für die ebenso untalentierte wie demotivierte Frau hat, da gerät sein Leben aus den Fugen. Martina bringt sich wenige Tage – mangels Optimalwohl – um und stellt damit in Frage, ob Freitag ihr wirklich eine gute Lebensberatung hat zukommen lassen. Freitag, der ganz in Stasi-Tradition ein vollkommener Denunziant ist und kontinuierlich Korrekturvermerke schreibt, um in den sozialen Rängen des Staates aufzusteigen, gerät in eine Spirale problematischer Ereignisse, die allesamt sein Weltbild erschüttern. Seine Eltern laden ihn zum ebenso echten wie illegalen Braten essen ein, seine Partnerin ist weit weniger von ihrem idealen gemeinsamen Status überzeugt als er und verlässt ihn und er findet heraus, dass sein berühmtester Beratungserfolg ihn manipuliert und betrogen hat. Und leider hat all das die Folge, dass er mächtig viele Sozialpunkte verliert und urplötzlich als schizo-paranoider Gesellschaftsverweigerer gilt, ohne wirklich etwas dazu beigetragen zu haben. Seine Freunde und Kollegen lassen ihn fallen, seine Privilegien werden eingezogen und er wird in kürzester Zeit vom Idealbeispiel zum Aussätzigen.

Neben Marc-Uwe Klings Qualityland ist Die Optimierer schon die zweite Dystopie, die sich einem „besseren Deutschland“ und seinem verschrobenen Hang zur Bürokratie widmet. Angesichts der unaufhaltsamen Digitalisierung scheint das Thema uns zu beschäftigen. Und wie Hannig eindringlich zeigt geben wir gerade freiwillig enorm viel von uns Preis, einfach weil es so schön bequem ist. Zum Glück findet Die Optimierer eine bessere Balance zwischen leichter Satire und schwerwiegender Kritik am System, als es Qualityland vermochte. Wo Kling zur Blödelei neigt, da schafft es Hannig uns aufzuzeigen wie viel von Freitag in uns steckt, wie sehr wir mit dem eigenen kleinen Leben und dessen Annehmlichkeiten beschäftigt sind. Wenn er dann aber mit voller Wucht die Konsequenzen seiner Privilegien zurückgespielt bekommt, dann greift uns das an und wir können uns eben nicht hinter Witzen und Anzüglichkeiten verstecken. Einige Szenen dieses Buches tun weh und es ist erschreckend zu erkennen, wie leicht wir selbst dem Algorithmus auf den Leim gehen, wie schnell wir Autoritäten gehorchen oder Wahrheiten Glauben schenken, wenn sie nur aus dem richtigen Mund kommen. Es bleibt ein Ende, bei dem jeder für sich selbst erkennen muss, ob es in seiner Endgültigkeit und Konsequenz nun eher dem Stiefel im Gesicht oder der notwendigen Revolution entspricht. Und vielleicht ist genau diese Entscheidung so wichtig für den Roman, damit dieser seine Leser*in etwas mündiger in die schöne neue Digitalwelt entlässt.

Theresa Hannig, Die Optimierer, Bastei Lübbe, Sep 2017