Was ist der Mensch in Zeiten des Cyborgs?
Ich bin ein Cyborg. Wir alle sind Cyborgs. Denn als Menschen im Zeitalter der Wissenschaft verschmelzen wir immer mehr mit dem technologischen Fortschritt um uns herum. Nirgendswo ist das deutlicher als in der Medizin. Wir können Körperteile ersetzen, von Zahnimplantaten bis zu künstlichen Gelenken wie Hüfte oder Knie, von Herzschrittmachern bis zum Cochlea-Implantat für Gehörlose, von plastischer Chirurgie bei Verbrennungen bis hin zu Arm- oder Beinprothesen für Amputierte.
Doch auch außerhalb der Medizin nutzen wir Technologie, um unsere Sinne und Fähigkeiten zu erweitern, angefangen bei einfachen Techniken wie der Vergrößerung durch Linsen, um kleine Dinge zu sehen, bis hin zu mobilen Geräten, die uns das Wissen der Welt in die Hände legen, ganz abgesehen von ihrer eigentlichen Funktion, Kommunikation über große Distanzen zu ermöglichen.
Als Definition des Cyborg könnte man also „die Verschmelzung des Organischen mit dem Maschinellen”[1](2) verstehen, so wie es Chris Hables Gray in seinem Essay „Cyborgology“ macht. Wobei das Konzept ‚Verschmelzung’ nicht notwendigerweise Permanenz voraussetzt, sondern sich auch etwa auf das Anschließen an einen Herzmonitor während einer Operation beziehen kann. Er ergänzt, dass hiermit auch die technologisch herbeigeführte „Zusammenkunft separater organischer System“ (2) gemeint sein kann – biotechnologische Cyborgs. Dazu gehören alle Menschen, die durch künstliche Befruchtung geboren wurden, sowie eigentlich jeder, der schon einmal eine Impfung gegen Masern oder Polio hatte. Wir alle – zumindest hier in der westlichen Welt – sind Cyborgs, auf die eine oder andere Weise.
Doch darüber hinaus ist der Cyborg auch ein philosophisches Konzept, eine Metapher oder Chiffre, mit der man über den Status des Menschseins nachdenken kann. Eine Möglichkeit, sich darüber zu verständigen, was es bedeutet Mensch zu sein in dieser digitalisierten, technologisierten und globalisierten Welt. Für Claudia Springer war bereits 1991 klar, dass wir Cyborgs etwa in der Science Fiction dazu nutzen, um über die akuten Probleme unserer Gegenwart zu sprechen: „Was hier wirklich in den Diskursen um eine Cyborg-Zukunft verhandelt wird, sind zeitgenössische Konflikte um Gender und Sexualität. Die Zukunft dient als unbeschriebene Tafel oder leerer Schirm, auf den wir unsere Faszination und unsere Angst projizieren können“ (322). Sie bezieht sich damit auf eine These der Philosophin Donna Haraway, die 1985 den Cyborg dazu nutzte, eine neue Form feministischen Denkens einzuführen und ihn als Symbol gegen ausgrenzenden Praktiken einsetzte.
Haraway ist sich dabei aber klar, dass es sehr unterschiedliche Möglichkeiten gibt, den Cyborg zu verstehen. So sieht sie unter anderem die Darstellungen Hollywoods – RoboCop, Terminator, Iron Man und Co. – als problematisch an, da diese vor allem dazu dienen (männliche) Machtfantasien auszuleben. Sie bezeichnet diesen Cyborg als „Metall-Fleisch-Krieger“ („Cyborgs and Symbionts“ xiv), der vor allem dazu dient, die alte Weltordnung aufrecht zu erhalten. Technologie dient hier dazu das Individuum zu ermächtigen, ihm mit Waffengewalt Herrschaft über andere zu verleihen und sich seinen Entscheidungen zu unterwerfen. Der Cyborg ist ein Übermensch, besser, schneller, stärker durch die Kraft der Technologie.
Genau darin liegt ja sein fantastisches Potential, denn Cyborgtechnologie gleicht nicht nur vermeintliche Mankos wieder aus und sichert damit medizinisch versehrten Menschen eine gleichberechtigte Chance. Der Cyborg kann Menschen auch rekonfigurieren und bestimmte Aspekte ihres Lebens verstärken. Wenn ein Pilot heutzutage eine Drohne am anderen Ende der Welt steuert und mit einem Knopfdruck ganze Dörfer auslöschen kann, dann ist dies eine Verstärkung seiner Macht zu töten. Wenn ein einzelner Arbeiter mittels Computertechnologie und Robotik eine ganze Fabrik steuert, die tausende von Solarzellen produziert, dann ist auch das eine Verstärkung der Fähigkeiten des Einzelnen.
In der Idee, die Cyborgtechnologie ermächtige den Menschen – mache ihn besser, schneller, stärker – steckt aber auch eine Gefahr. Denn sie funktioniert nur, wenn man den Menschen als freies, über sich selbst bestimmendes Individuum versteht, das die Wahl trifft, wie und wodurch es zum Cyborg wird, und dem dadurch nichts von seinem „Selbst“ oder seiner „Natur“ verloren geht. Doch was genau ist das? Und auf wen trifft eine solche Definition zu? Donna Haraway, wie auch andere Vertreter eines Cyborg-Feminismus zweifeln daran, dass dieses Ideal jemals allgemeine Gültigkeit hatte und verweisen beispielsweise auf die Unfreiheit des weiblichen Körpers. Schaut man aktuell auf die Situation in den USA und die Fremdbestimmung von Frauen durch die Politik, dürfte ansatzweise klar sein, dass eben nicht jeder Mensch frei und selbstbestimmt ist.
Doch man kann den Cyborg auch entgegen einer solchen Machtfantasie lesen und die Figur als eine Befreiung aus dominanten Machtstrukturen verstehen. Für Haraway besteht der Cyborg aus Komponenten, die kein entweder/oder zulassen, sondern immer als sowohl/als auch erfordern. Der Cyborg ist ein Ganzes, aber besteht aus Teilen, er ist geboren aber zugleich produziert. Vor allem ist der Cyborg ein Wanderer auf der Grenze, sogar eine Figur, die Grenzen auflöst. Haraway argumentiert, dass Cyborgs – und man erinnere sich an die Einheit separater organischer Systeme, die Gray anspricht – die Grenze zwischen Mensch und Tier auflösen und endlich sichtbar machen, dass der Mensch ein Teil eines weit größeren Systems des Lebens ist, dass die Unterscheidung zwischen Welt und Mensch nicht funktioniert. Die exzeptionelle Position – die Erde ist dem Menschen Untertan – ist hier aufgehoben. Leben ist selbst-organisierend und komplex und verwoben, der Cyborg repräsentiert dies in seiner Symbiose unterschiedlicher Organismen und Komponenten. Und das gilt auch für Maschinen, die lernen, wachsen, handeln, entscheiden. Die Grenzziehung, was Leben ist und was nicht, macht uns der Cyborg schwerer. Und letztlich geht der Cyborg noch weiter, denn er löst die Grenze auf zwischen dem was physische Materialität besitzt und dem, was nicht-physisch ist. Neue komplexe Beziehungen mit selbst-organisierenden Technologien benötigen keine Basis mehr in der Materialität – zumindest das sollten uns Siri, Alexa und Cortana bereits gelehrt haben, auch wenn diese (allesamt weiblich konnotierten) dienstbaren Geister den alten misogynen Gedanken der untertänigen Frau neu beleben.
Haraway fasst ihre These so zusammen: „Mein Cyborg-Mythos handelt von überschrittenen Grenzen, von machtvollen Fusionen und von gefährlichen Möglichkeiten“ („A Cyborg Manifesto“ 154) – für sie verfügt der der Cyborg über die Verbindung zu anderen Systemen, eine Partialität des Selbst und die Vereinigung von Widersprüchlichem als identitätsstiftenden Elementen. In Hinsicht auf die Kategorien einer ‚politischen Identität’ (also im Sinne der ‚identity politics’) ist der Cyborg eine Option, sich fragmentierte und nur über Negativ-Merkmale und Widersprüche zu dominanten Kategorien bestehende Identitäten anzueignen. Stellt man die Frage nach den Definitionskriterien einer afro-amerikanischen ‚woman of color,’ so erklären sich diese nur, wenn man sie gegen dominante Kategorien liest – sie gilt weder als Repräsentation einer afro-amerikanischen Identität (die wäre männlich), noch als Repräsentation einer Identität ‚Frau’ (die wäre weiß), noch als spezifisch einer nationalen oder ethnischen Identität (‚of color’ ist nur als nicht-weiß definiert). Eine Cyborg-Identität lässt diese Widersprüche zu und erkennt die intersektionalen Beziehungen zu anderen Subjekten und Systemen als zentrale Elemente der Identität an.
Nach diesen sehr theoretischen Ausführungen ist es Zeit zur Idee von Roll Inclusive und seiner Zielsetzung zurückzukommen. Denn der Cyborg – in seiner feministisch ermächtigenden Lesart – wäre ein ideales Werkzeug, um sich (wie von Claudia Springer postuliert) zeitgenössischen Konflikten zuzuwenden. In Rollenspielen könnte die Figur des Cyborgs Spieler*innen helfen, sich selbst als Grenzgänger zu sehen und damit einerseits marginalisierten Gruppen zu einer besseren Repräsentation verhelfen, oder andererseits von privilegierten Spielern genutzt werden, um sich durch Empathie den Erfahrungen marginalisierter Gruppen zu nähern. Gerade Rollenspiele im Modus des Cyberpunk – also etwa das RPG von R. Talsorian, Cyberpunk von 1988, oder das 1989 von FASA veröffentlichte Shadowrun, die beide bis heute Neuauflagen erfahren und sich großer Beliebtheit erfreuen – könnten genau diesen ermächtigenden Effekt haben.
Cyberpunk als Genre bietet theoretisch jede Menge Ansätze für Cyborg-Feminismus, wenn man sich überlegt, dass Technologie hier „unter unsere Haut; oftmals in unsere Köpfe hinein“ (xiii) reicht, wie es Bruce Sterling behauptet. Die Grenzüberschreitung, die Grenzauflösung ist hier vorprogrammiert, geht es doch um „Techniken, die radikal die menschliche Natur neu definieren, die Natur des Selbst“ (Sterling xiii). Und doch sind Cyberpunk-Texte eben auch die Heimat der erwähnten Metall-Fleisch-Krieger, denen es um die eigene Selbstermächtigung geht und die dabei die Ideologie des selbstbestimmten Individuums vorantreiben. Kritiker*innen, wie Karen Cadora oder Nicola Nixon, sehen im Cyberpunk einen „boy’s club“, dessen Helden (allesamt männlich, weiß, frei) ganz in der Tradition amerikanischer Cowboys einsam für Gerechtigkeit und die gute alte Weltordnung antreten.
Und dieses Klischee findet sich noch heute oft im Cyberpunk, doch kann dieser eben auch die Leinwand bieten, andere Bilder von einer Cyborg-Gesellschaft und über den Status des Menschen zu malen. Ich möchte nur ein Beispiel anführen, dass im kleinen Rahmen vielleicht das Potential aufzuzeigen vermag, das bei kreativer Umsetzung in der Idee des Cyberpunk steckt. In Mamoru Oshiis Ghost in the Shell (1995), einem der Schlüsseltexte visuellen Cyberpunks der 1990er Jahre, begegnen wir Major Motoko Kusanagi, einer der wohl wichtigsten Cyborgfiguren der Popkultur überhaupt. Kusanagi hat zwar noch ein biologisches Gehirn, nutzt aber ansonsten Cyborg-Körper, um ihrem Job als Agentin des Geheimdienstes Sektion 9 nachzukommen. Der Film ist bei weitem nicht unproblematisch, gerade weil er Kusanagis nackten Körper häufig den Blicken eines (männlichen) Publikums freigibt, doch wird bereits in der Anfangsszene klar, dass in der Cyborg-Identität viel Raum für Gedankenspiele steckt. Kusanagi scherzt auf die gereizte Anfrage eines Kollegen, warum sie so abgelenkt sei, dass es „diese Zeit des Monats“ sei. Ein Klischee über Frauen mit schlechter Laune während der Periode? Nein, denn Kusanagis Körper ist eine Konstruktion, was wir in den Opening Credit zu sehen bekommen. Ihr Körper wird zusammengefügt und ihre Haut ist mit biothermischer Tarnung versehen. Zwar sind ihre Brüste deutlich erkennbar, doch ist sie ohne primäre Geschlechtsmerkmale, also damit auch nicht zu Monatsblutungen oder Schwangerschaft fähig. Auch sonst zeigt der Film sie zwar eindeutig morphologisch weiblich, definiert sie aber über männlich konnotierte Handlungsbereiche – sie ist ein Vertreter der Autorität, handelt professionell und nüchtern, selbst wenn es um die gezielte Ausschaltung von Zielen geht. Liebe, Sexualität, Partnerschaft sind keine Kriterien ihrer Identität.
Noch deutlicher wird das Cyborg-Potential am Ende des Films. Kusanagi jagt einen vermeintlichen Hacker, den Puppet Master, der im Film männlich konnotiert wird und durchgehend mit „er“ bezeichnet ist. Doch der Hacker entpuppt sich als künstliche Intelligenz, die ihrer Gefangenschaft entkommen will. Dafür nutzt der Puppet Master einen Cyborg, der wie Kusanagi ausgeprägte weibliche Morphologie aufweist. Zur Grenzüberschreitung des Films gehört nicht nur, dass eine männliche Stimme aus dem weiblichen Körper dringt, sondern auch, dass der Puppet Master aus Kusanagis Körper sprechen kann – die beiden Cyborgs sind nicht abgegrenzte Individuen sondern verschmelzen miteinander. Das wird noch deutlicher, als klar wird, dass der Puppet Master Kusanagi benötigt, um sich „fortzupflanzen“ – nicht durch Replikation (das Kopieren des Codes), sondern mittels selektiver Variation (also das Vermischen zweier Originale zu etwas Neuem), dass dabei aber die beiden ursprünglichen Lebensformen aufhören zu existieren. Der Film zeigt hier also auf, was Haraway als das Potential der Cyborg-Identität formuliert hat: die Möglichkeit jegliche Grenzen aufzulösen, zwischen Mensch und Maschine, zwischen Geburt und Herstellung, zwischen Leben und Tod, zwischen Materialität und Virtualität, zwischen Männlich und Weiblich. Der Cyborg, wie er hier gezeigt wird ist queer, hybrid, partiell, komplex und widersprüchlich im besten Sinne.
Dieses Potential bieten auch Cyberpunk-Rollenspiele, allen voran Shadowrun, dass neben der Cyborg-Identität auch noch den Versuch von Diversität durch die Einführung von Metahumanität (also Rassen wie Elfen, Orks, Trollen etc.) unternimmt – auch wenn das nicht immer gelingt. Im Spiel werden so explizit Diskursräume geschaffen, in denen Fragen wie Rassismus und Ausgrenzung ‚Anderer’ erörtert bzw. durchgespielt werden können. Für Spieler*innen aus diversen, queeren, marginalisierten Gruppen, kann diese Option ein wichtiger Moment der Ermächtigung sein („empowerment“), wie Dia Lacina es formuliert:
High School war Shadowrun. Es gab in den 90ern nicht gerade viele Spiele, die es einem ermöglichten braun, queer und wütend zu sein. Unsere Gruppe bestand aus Somali, Mexikanern, Thai, Schwarzen und Native Americans. Wir waren anders und „mestiza“. Die Nachkommen von Geflüchteten, Sklaven, und Subalternen [Anm. d. Autors: Untergebene, im Sinne von Kolonialisierte, etwa im ehemaligen British Empire]. Wir waren wütendende, queere, farbige Teenager in einem fast ausschließlich weißen und gut situierten Vorort. In der „Hauptstadt der Konföderation“ waren wir Außenseiter, die die ganze Woche ihr Maul zu halten hatten. Shadowrun ließ uns laut sein.
Lacina verweist in ihrem Artikel darauf, dass Shadowrun – wie alle Rollenspiele – ein aus Systemen und Vorgaben erschaffenes Produkt ist, das eine bestimmte politische Lesart vorgibt. Im Falle von Shadowrun ist diese im Prinzip eine anti-autoritäre Position: gegen die Corporations, für die Schwachen und Unterdrückten. Doch, so Lacina, die politische Positionierung ist mitunter „verschwommen und widersprüchlich“ – und vor allem in Hinsicht auf die Darstellung von Rasse und deren Klischees und Vorurteilen nicht immer befriedigend gelungen. Um aber beim Thema Cyborg und dessen feministischem Potential zur Ermächtigung zu bleiben, lohnt sich der Blick auf die Mechaniken von Shadowrun (und zum Teil Cyberpunk), in denen Widersprüchlichkeit und Verschwommenheit schnell deutlich werden.
So beschreibt Shadowrun in seiner neuesten 5. Edition den Einsatz von Cyborg-Technologie (hier: Cyberware) als mit Problemen behaftet, die auch spieltechnisch Konsequenzen haben. So sind Cyborgs durch die Technologie zwar fähiger als andere Menschen, werden aber auch mit deren Neid und Missgunst konfrontiert (54). Es gibt gesetzliche Bestimmungen, die Cyberware einschränken und zu regulieren versuchen; aber auch Diskriminierungen aufgrund des „uncanny valley“-Effekts sind Alltag für Cyborgs (54). In Hinsicht auf die Spielmechanik bedeutet dies, dass Cyberware mit einem Wert versehen ist, der das „Soziale Limit“ der Spieler*in reduziert. Jegliche soziale Interaktion wird also reduziert, was auf einen generellen Bias gegenüber Cyborgs hindeutet. Insofern verweisen Regelsystem und Diegese (also die mitgelieferte ‚Geschichte der Welt’) auf eine Diskriminierung von Cyborgs – was der Marginalisierung von Personen gleichkommt, die sich als queer, crip, ‚of color’ oder anderweitig non-konform bezeichnen würden. Besonders auffällig ist, dass jegliche soziale Interaktion von dem Malus betroffen ist, es also dem System egal ist, was ein Cyborg macht, die Reaktion bleibt durch die Diskriminierung gefärbt. Hier spiegelt sich also durchaus die Realität, dass jede Alltagssituation von systemischen Rassismus oder Sexismus problematisiert werden kann (Stichwort: „Driving while Black“).
Problematisch ist jedoch, dass hinter der Mechanik zum Sozialen Limit der Bezug auf einen anderen Spielwert liegt – den der Essenz. Die Diegese liefert unter dem Stichwort Essenz eine ausführliche Begründung dafür, warum Cyberware die negativen Reaktionen auslöst. So heißt es, Cyberware käme zu einem Preis…
Und wir reden hier nicht nur von Geld: es gibt einen höheren Preis, den du zahlst. All das Zeug ist nützlich und super, aber es ist künstlich. Es ist nicht metamenschlich und dein Körper weiß das. Jedes Mal, wenn du eine Verbesserung einsetzt, gibst du ein kleines Stückchen deines Selbst auf. Du verlierst etwas in dir drin, ein Stück deiner metamenschlichen Essenz. […] Also, mach ruhig und verbessere dich […] nur sei dir im Klaren, dass dir mit jedem Mal ein Stück deiner Metamenschlichkeit durch die Finger rinnt. (23)
Das Spielsystem setzt hier also einen Wert fest, der die Natur des Menschen beschreibt – „Metamenschlichkeit auf eine Zahl gebracht“ (52), wie das Regelwerk es formuliert. Zum einen drückt sich daran die Idee aus, dass alle Menschen eine universelle Natur besitzen, die mit dem exakt gleichen numerischen Wert, nämlich ‚6’ zu beziffern sei. Zum anderen steht dahinter aber auch die Annahme, dass ein unversehrter Körper dem menschlichen Ideal entspräche. Eine Amputation, ein künstliches Gelenk, ein Herzschrittmacher würden in diesem Szenario die betreffende Person weniger „menschlich“ machen. Rollstuhlnutzer*innen oder Menschen mit amputierten Gliedmaßen sind also weniger „Wert“, weniger „menschlich“. Das ist eine massive Form systemischer Diskriminierung, die inhärent hinter der Spielmechanik liegt und von Spieler*innen quasi im Vorbeigehen aufgenommen wird.
Noch schlimmer ist, dass die Koppelung dieses universellen Essentialismus mit dem eigentlich die soziale Realität gut beschreibenden Mechanismus des „Sozialen Limits“ eine Kausalität herstellt, die Diskriminierung als gerechtfertigt und nachvollziehbar darlegt. Menschen mit niedriger Essenz haben ihr Selbst ja freiwillig aufgegeben, sie haben sich selbst „künstlich“ gemacht und haben einen geringeren Wert. Damit ist eine Ablehnung systemisch begründet und quasi die falsche soziale Behandlung auf die Cyborgs selbst abgewälzt – eine durchaus ernst zunehmende Form des „victim blaming“, wenn man so will.
Aber Shadowrun ist nicht alleine darin, auf diese Weise Cyborg-Technologie zu bewerten – ein ähnlicher Mechanismus greift bei Cyberpunk, in dessen ursprünglicher, erster Edition folgendes steht: „Etwas passiert, wenn du dem Menschen Metall und Plastik hinzufügst. Die Leute verändern sich. Und das ist nicht schön anzuschauen. In den 2000er nennen wir das Cyberpsychose; eine Geisteskrankheit, die durch das Hinzufügen von Cybernetik eine bereits instabile Persönlichkeit fragmentiert.“ Wie die Essenz bei Shadowrun, nutzt Cyberpunk den Wert Empathie, um auf die soziale Interaktionsfähigkeit zu verweisen. Cyberware reduziert diesen Wert durch einen Kostenfaktor, der sich in „Menschlichkeit“ (im Original „Humanity Cost“) berechnet. Jede Cyborg-Technologie hat also einen Preis an Menschlichkeit, der meine Empathie und damit jegliche meiner zwischenmenschlichen Interaktionen einschränkt. Im Gegensatz aber zur Essenz, wird hier die Kausalität umgekehrt. Nicht die Umwelt reagiert anders, sondern der Betroffene, dem eine Krankheit attestiert wird. Cyberpsychose ist eine extreme Form von antisozialer Haltung, von Rückzug aus Beziehungen. Das Narrativ ist also ein anderes, hier kann man zumindest sehen, dass die körperliche Veränderung eine andere Bezugnahme zur Umwelt generiert. Dass diese die Veränderung als krankhaft und Cyborgs damit effektiv als selbstzerstörerisch klassifiziert ist am Ende nicht viel besser, aber es zeigt, dass die Repräsentation von Technologiefolgen auf den Menschen sehr wohl wichtig in der Wahrnehmung sind.
Zusammenfassend kann man also feststellen, dass Cyborg-Technologien viel Potential bieten, sich mit neuen und andersartigen Identitäten zu beschäftigen. Sie erlauben es einem unbekannte Perspektiven einzunehmen oder aber sich selbst als marginalisierte Person repräsentiert zu sehen. Doch die Gefahr, hier durch Machtfantasien und unachtsame Darstellungen das Andere einfach auszulöschen ist groß. Elsa S. Henry etwa weist in ihren Texten deutlich darauf hin, dass die Reduktion von Cyborgs auf die Behauptung, sie verbesserten den (unversehrten) Menschen, die Realität versehrter Menschen auslösche: „Behinderung in deiner Zukunft auszulöschen, suggeriert nicht einfach nur, dass wir in der Zukunft keine Bedeutung mehr haben, es suggeriert, dass wir gar nicht mehr existieren.“ Die Anerkennung, die Behinderung als wesentlichen Bestandteil ihrer Identität zu sehen, ist für sie wichtig – Repräsentation verschiedener Identitäten, wie sie der Cyborg ermöglicht ist relevant. So sehen es auch Jaako Stenros und Tanja Sihvonen, die eine Studie über queere Repräsentation in Rollenspielen durchgeführt haben. Sie kommen zu dem Ergebnis, das Queerness lange Zeit absichtlich in Regelwerken unterdrückt wurde, bevor sie in den 1990er Jahren erstmals versteckt bzw. verschleiert zu finden waren, und somit selbst kleinste queere Momente zu „wichtigen Siegen“ wurden: „Selbst die flüchtigste Bemerkung […] konnte signalisieren, dass in der Spielwelt tatsächlich queere Menschen vorkamen.“
Wir sind alle Cyborgs, ob wir das nun selber anerkennen wollen oder nicht. Cyborg-Feminismus ist eine Möglichkeit, sich bewusster und genauer mit dieser neuen Realität zu beschäftigen und die eigene Subjektivität in einen Abgleich zu bringen mit den Verflechtungen und Widersprüchen in denen sie entsteht. Cyborg-Technologien sind ein Teil der vielfältigen Welt, die uns ebenso aus macht, wie wir ein Teil von ihr sind – humanistische Grenzziehungen, wir gegen sie, Mann gegen Frau, Mensch gegen Maschine, sind hinderlich dabei, den Menschen neu und anders zu denken. Sie hindern uns daran unsere Realität im 21. Jahrhundert, in Zeiten des Cyborg, zu verstehen und unseren Platz darin zu finden. Cyborg-Identitäten sind dafür besser geeignet und im Cyberpunk-Rollenspiel können wir mit diesen experimentieren.
Zitierte Werke:
Cadora, Karen. „Feminist Cyberpunk“ Science Fiction Studies, Vol. 22, Nr. 3 (1995), S. 357–72
Cyberpunk: The Roleplaying Game of the Dark Future. R.Talsorian Games, 1988.
Hables Gray, Chris, Steven Mentor, and Heidi J. Figueroa-Sarriera. „Cyborgology: Constructing the Knowledge of Cybernetic Organisms“ The Cyborg Handbook, hg. von Chris Hables Gray, Steven Mentor, and Heidi J. Figueroa-Sarriera. New York: Routledge, 1995. S. 1-14.
Haraway, Donna J. „A Cyborg Manifesto: Science, Technology, and Socialist-Feminism in the Late Twentieth Century.“ Simians, Cyborgs, and Women: The Reinvention of Nature. New York: Routledge, S. 149–81.
—. „Cyborgs and Symbionts: Living Together in the New World Order.“ The Cyborg Handbook, hg. von Chris Hables Gray, Steven Mentor, and Heidi J. Figueroa-Sarriera. New York: Routledge, 1995. S. xi-xx.
Henry, Elsa S. „On Teaching Disabled Representation in Fiction“. Terribleminds, 01. Sept. 2016, <http://terribleminds.com/ramble/2016/09/01/elsa-s-henry-on-teaching-disabled-representation-in-fiction/>.
Lacina, Dia. „It Takes More Than a ‚Tolerance’ Mechanic to Make an Anti-Colonial RPG“. Vice, 13. Nov. 2017, <www.vice.com/en_us/article/a37a34/it-takes-more-than-a-tolerance-mechanic-to-make-an-anti-colonial-rpg>.
Nixon, Nicola. „Cyberpunk: Preparing the Ground for Revolution or Keeping the Boys Satisfied?“ Science Fiction Studies, Vol. 19, Nr. 2 (1992): S. 219–35
Shadowrun Core Rulebook, 5th edition. Catalyst Game Labs, 2013.
Springer, Claudia. “The Pleasure of the Interface.” Screen 32.3 (1991): S. 303–23.
Stenros, Jaakko und Tanja Sihvonen. „Out oft he Dungeons: Representations of Queer Sexuality in RPG Source Books“. Analog Game Studies, Vol. 6, No. 1 (2015): k.S. <http://analoggamestudies.org/2015/07/out-of-the-dungeons-representations-of-queer-sexuality-in-rpg-source-books/>.
Sterling, Bruce. “Preface.” Mirrorshades: The Cyberpunk Anthology. New York: Ace, 1986. S. ix-xvi.
[1] Alle Zitate aus englischsprachigen Quellen, im gesamten Text, sind vom Autor selbst übersetzt.
Ursprünglich erschienen als Stretch-Goal PDF für den Band Roll Inclusive.
Schmeink, Lars. „Was ist der Mensch in Zeiten des Cyborgs?“ Roll-Inclusive: Diversity und Repräsentation im Rollenspiel. Kickstarter extras. PDF. Hg. Aşkın-Hayat Doğan, Frank Reiss und Judith Vogt. Feder & Schwert, 2019: 26–38.