Id commune malum, semel insanivimus omnes.

(Ecl. 1, 118. Battista Mantovano, Adulescentia, 1498)

I. Allgegenwärtiger Wahn

In seinem Roman The Echo Maker von 2006 beschreibt der amerikanische Autor Richard Powers anhand eines Einzelschicksals die prekäre geistige Situation unseres Selbst. Egal, wie sehr wir auch darauf bestehen mögen, dass wir gesund und ver­nünf­tig, unsere Umwelt wahrzunehmen und sie zu verstehen in der Lage sind, so Powers‘ Diagnose, wir machen uns nur etwas vor. „The self presents itself as whole, willful, embodied, continuous, and aware“, schreibt Powers‘ in die menschlichen Geis­tes­­ab­gründe eingeweihter Anti-Held, ein Neuropsychologe, dessen Popwissen­schaft ihn auf den Olymp des Zeitgeist geführt hat, in seinem Buch, nur um dann seine ei­gene Weis­heit zu widerlegen: „But even back then, before he knew any­thing, he knew how each of those prerequisites could fail“ (381). Powers‘ Roman verfolgt konsequent das Ziel, unsere Normalität und unsere Realität – so wie wir meinen, sie erkannt zu haben – komplett aus den Angeln zu heben und uns deutlich zu sagen, dass geistige Gesundheit nur eine Frage von Relativität ist.

Keine völlig neue Aussage, beruht doch Michel Foucaults Wahnsinn und Gesell­schaft im Grunde auf derselben Erkenntnis, dass die Kategorien ‚Wahnsinn‘ und ‚Vernunft‘ sozial etablierte Normen sind, die mit Leichtigkeit verschoben werden. Doch Powers‘ Roman verdeutlicht, dass in unserer Zeit und Kultur immer noch die Illusion gepflegt wird, geistige Gesundheit normativ definieren zu können. Ein Blick auf aktuelle Werke der Kulturproduktion verdeutlicht dann auch, dass das Thema ‚Wahnsinn‘, wenn wir es denn bei dieser aus der Mode geratenen Bezeich­nung belassen wollen, bei weitem nicht mit der Änderung der medi­zinischen Termi­ni oder Diagnosen in den letzten 20 Jahren ausgeklungen ist, sondern vielmehr auch im Jahre 2010 noch lange nicht abgeschlossen scheint. Denkt man insbesondere an die Vielzahl zeitgenössischer Romane, die sich mit allen möglichen dramatischen Formen des Realitätsverlustes ihrer Helden auseinandersetzen, induziert z. B. durch die Alzheimersche Krankheit oder diverse Formen des Autismus, so wird offenbar, dass das Thema nicht nur en vogue, sondern die Frage nach Normalität, Vernunft und ihrem sozial definierten Gegenteil dringlicher denn je ist. Und obwohl eine genaue Analyse der aktuellen Situation des ‚Wahns‘ und ihrer Darstellung in der Kunst uns dringlich erscheint – und in anderer Form in Zukunft auch noch zu erbringen sein wird – war uns zuerst wichtig, einen Blick auf die historische Ent­wick­lung des ‚Wahnsinns in der Kunst‘ zu werfen. Hierzu haben wir individuelle Bei­spiele gesammelt, die in ihrer Zusammenstellung nur Schlaglichter auf ein Thema werfen können, das die Menschen seit jeher beschäftigt hat. Die in diesem Band versammelten Beiträge sind von daher nur als Ausschnitte zu verstehen, als kleine Einblicke in eine Welt, die voll ist von Narren, Liebenden und Poeten. Für die Kunst jedenfalls kann wohl Lewis Carrolls Ausspruch unumwunden gelten: „‚But I won’t go among mad people,‘ Alice remarked. ‚Oh, you ca’n’t help that,‘ said the Cat: ‚we’re all mad here. I’m mad. You’re mad'“ (Carroll 57).

II. Eine Mikrogeschichte des Wahnsinns[1]

Der Wahnsinn ist so alt wie die Menschheit – zumindest legen dies tausende Jahre alte Knochen nahe, denen der Schädel mit Flintstein aufgebohrt wurde, vermutlich um den von bösen Geistern Besessenen von seinem Wahn zu erlösen. Noch bis zur griech­isch­en Antike galt nämlich der Wahn als Zeichen göttlicher Intervention oder dämon­ischer Besessenheit. Der Mensch war Spielball überirdischer Kräfte und keine Person, kein ‚Selbst‘ im heutigen Sinne. Es dauerte bis ins 4. oder 5. Jahrhundert vor Christus, der Hellenischen Blütezeit, bis so etwas wie Bewusstsein einen Ausdruck im Denken und Schreiben der Zeit fand. Der innere Konflikt der Protagonisten der Tragödien dieser Zeit reflektiert eine Entwicklung im Verständnis des Menschen: Stolz, Hybris, Ehrgeiz, Trauer und Schuld sind ein Teil des Menschen und können in ihm psychische Kon­flikte auslösen. Doch der dramatische Diskurs wie ihn Aeschylus, Euripides und Sophokles repräsentieren war schon damals kultureller Spiegel einer sich in der Ge­sell­schaft ändernden Sichtweise auf den Wahn. 

Mit Hippokrates sollte das Übernatürliche aus der Medizin ausgeschlossen werden und natürliche Gründe für alles menschliche Weh und Übel in den Fokus rücken: 

Die Menschen sollten wissen, daß aus keiner anderen (Quelle) Lust und Freude, Lachen und Scherzen kommen als daher, von wo auch Trauer und Leid, Unlust und Weinen stammen. … Gerade durch eben dieses Organ verfallen wir auch in Raserei und Wahnsinn, und treten Angst und Schrecken an uns heran, sowohl des Nachts als auch am Tage, dazu Schlaflosigkeit, Irrtümer, unpassende Sorgen, Verkennung der tatsächlichen Lage und Vergessen. All das erleiden wir vom Gehirn her, wenn es nicht gesund ist. (zit. in Grensemann 83)

Die von ihm eingeführte Humoralpathologie war die Grundlage des medizinischen Umgan­ges mit körperlichen wie auch geistigen Krankheiten seit der Antike bis hin zur Aufklärung. Die vier Körperflüssigkeiten, oder auch Säfte, Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle waren laut Hippokrates im Körper eines gesunden Menschen im Gleich­­gewicht. Sollte dieses jedoch gestört sein, so kam es zu körperlichen, aber auch geis­tigen Krankheiten, die je nach Übergewicht eines der Säfte zu Manie (Blut, gelbe Galle) oder Melancholie (Schleim, schwarze Galle) führten. 

Das Ideal des Menschen – in seinem Gleichgewicht der Säfte – war jedoch homo rationalis, der vernunftbegabte Mensch, schon zu Platons Zeit. Die Dualität von Geist und Materie erlaubte es dem Menschen durch Vernunft, sich selbst und die Welt zu erkennen. Der ultimative Verfechter dieser Sichtweise war René Descartes, dessen mechanistische Weltsicht den Menschen über den Rest der Schöpfung stellte, weil er Bewusstsein hatte: Bewusstsein, das auf rationalistischer Perfektion beruhte. Geist und Körper waren zwar miteinander verbunden, doch da das Bewusst­sein auf Vernunft basierte, musste in Descartes‘ Denken der Wahnsinn eine körperliche Ursache haben, nicht eine aus dem Geist bzw. dem Bewusstsein ent­sprin­gen­de. Diese Argumentation wurde im späteren Verlauf der philosophischen Diskus­sion durch Denker wie Thomas Hobbes oder John Locke noch ausgebaut, ihr Ver­ständ­nis des Bewusstseins war weitaus materialistischer als das von Descartes. Für den Philosophen John Locke zum Beispiel war Wahnsinn weder ein teuf­li­scher Fluch noch ein Ungleichgewicht der Säfte, für ihn galt der Wahn vielmehr als fehler­­haftes Denken oder falsche Wahr­nehm­ung, eben als Unvernunft.

Für Foucault verkörpert dieser Moment Anfang des 18. Jahrhunderts bereits „die Feststellung eines abgebrochenen Dialogs“, in dem „die Trennung bereits voll­zogen“ ist, die Trennung von „Wahnsinn und Nichtwahnsinn, Vernunft und Nicht­vernunft“ (8), und sein Buch beschäftigt sich mit der Erforschung eben dieser Tren­nung. Irgendwann infolge der Aufklärung erweist sich, so Foucault, die Trennung als absolut, und der Wahnsinn wird vollkommen von der Vernunft ausgeschlossen, sowohl philosophisch als auch praktisch-sozial. Der Wahnsinn oder die Unvernunft als das Andere der Gesellschaft wird seit Mitte des 17. Jahrhunderts konsequent auch räumlich verbannt: in Frankreich wird 1657 das Hôpital Général gegründet, und es beginnt die „‚große Gefangenschaft‘ der Armen“ (Foucault 14), die weit mehr als nur die Geisteskranken als ‚anders‘ ausgrenzt – alles, was der Vernunft der Herrschenden im Wege steht, wird als Nichtvernunft ein- und aus dem Blickfeld der Gesellschaft weggesperrt. Im Zuge dieser Ausgrenzungen wird der Wahn von jeglicher Faszination oder Macht ­– wie sie etwa dem Narren oder dem vom Wahn befallenen Seher oder Dichter zugesprochen wurde – endgültig befreit und zur Negation alles Menschlichen degradiert. Ohne die Vernunft, die uns erst zum Menschen macht, ist der Wahnsinnige nicht besser als ein Tier. Ähnliche Ein­sper­rungen sind in vielen Ländern Europas zu finden, wenn auch nicht immer so früh wie in Frankreich. Und mit der Ausgrenzung, Einsperrung und Entmensch­lichung folgten Unterdrückung, Missbrauch und Miss­handlung der Ausgegrenzten. Erst mit dem ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahr­hundert traten mehr und mehr Gesetze in Kraft, die eine ordentliche Behandlung und eine medizinische Aufsicht diesen Praktiken entgegenstellten: „1794 werden die Gefangenen in der Anstalt von Bicêtre, deren Leiter Philippe Pinel war, von ihren äußeren Ketten befreit“, allerdings, so schreibt Hinrich Fink-Eitel, „ohne daß auch die inneren fielen“ (25). Was damit aber bleibt, ist die Ausgrenzung des Anderen, die Trennung von Vernunft und Wahnsinn, die es bis ins 20. Jahrhundert hinein erlaubt, geistig nicht ’normale‘ Menschen auszugrenzen, ihnen alle Rechte abzusprechen und sie in Anstalten zu verwalten. Diese Haltung zur Verwaltung des Wahns, zur Separation der Unvernunft und zur sozialen Ausgrenzung des Anderen ändert sich erst in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts mit der Antipsychiatrie-Bewegung, die sich in ihrer Kritik auf Foucault stützt und psychiatrische Diagnosen letztlich als willkürliche soziale Wertung durch das hegemoniale System offen legt. Die aus dieser Bewegung entstandene Kritik führte in den 1980er und 1990er Jahren zu einer massiven Verbesserung der Gesetze zum Schutz geistig Kranker sowie zu einem Umdenken in den Behandlungsmethoden. 

III. Wahnsinn und Kunst

Wie wir gesehen haben, hat sich der Umgang mit dem Wahn im Laufe der Mensch­heits­geschichte mehrfach Wandlungen unterzogen, die immer auch religiöse, philosophische und gesellschaftliche Veränderungen reflektiert haben. Und so finden sich auch in der Kunst als Ausdrucksform gesellschaftlicher Themen Darstellungen und Metamorphosen des Wahnsinn wieder – und das schon seit ihren Anfängen. Von den griechischen Tragödien bis zu Woody Allens Der Stadt­neu­ro­tiker hat die Kunst in all ihren Formen der Beschäftigung des Menschen mit seinen Grenzen, im Falle des Wahns mit den Grenzen von Normalität und Vernunft, schon immer eine Plattform zur Diskussion geboten. Der vorliegende Band möchte dieser Beschäftigung Rechnung tragen und eröffnet eine Reise in die unterschiedlichsten Ausein­andersetzungen von Kunst mit Wahnsinn. Was er dabei nicht zu leisten vermag, ist, ein vollständiges Bild des Themas zu liefern. Wir haben uns entschieden, Expertinnen und Experten aus den Literatur- und Kultur­wissen­schaften sowie den Kunst- und Musikwissenschaften zu bitten, aus ihrem Fachgebiet einen speziellen Teilbereich auszuwählen und daran – ohne Anspruch auf Allgemein­gül­tig­keit ­– einen Aspekt der Diskussion von Wahnsinn in der Kunst zu erörtern. Ent­stan­den ist dadurch eine vielfältige Sammlung von Ana­lysen, denen gemein ist, dass sie Wahnsinn als direkt in seinem historischen Moment und seinen gesell­schaftlichen Diskursen verankert sehen und die aus diesem Grunde hier in mehr oder weniger chronologischer Reihenfolge der ihnen zugrunde liegenden Werke präsentiert werden. 

Alexander Meier-Dörzenbach eröffnet den Band mit seinem Beitrag, der einen Überblick über die sich verändernde Darstellung von Wahnsinn in der Kunst und in der Oper bietet. Er beginnt seine Ausführungen mit der Unterscheidung des Wahn­sinns in seine etymologische Herkunft, mal als Irrweg der Wahrnehmung, mal als Leere des Verstandes. Meier-Dörzenbach eröffnet dann ein Kaleidoskop der sinn­lichen Eindrücke des Wahnsinns, in dem er die Entwicklung der künstlerischen Beschäfti­gung mit dem Wahnsinn nachzeichnet, sich die Darstellung in zwei medialen Räumen der Kunst, im Bild und in der Oper herausgreift und dort in großer Vielfalt und mit ganz unter­schied­lichen Schwerpunkten interdisziplinäre Zwischenräume aufzeigt.

Der Beitrag von Beate Neumeier liefert einen ausführlichen und äußert detaillierten Überblick über die Verwendung des dramatischen Motivs des Wahnsinns in der briti­schen Renaissance. In ihrer Analyse konzentriert sich Neumeier auf die Ver­wen­dung des Wahnsinns zur Bestätigung und Infragestellung der „Kategorien gender (feminini­ty/masculinity) und mind (madness/sanity) als Konstituenten indivi­dueller Subjektivi­tät“. Wahnsinn, so Neumeier, wurde im britischen Renaissance-Theater direkt ver­han­d­­elt und systematisch durch Aspekte der Genre­bildung und des Gendering immer mehr aus der Gesellschaft ausgegrenzt.

Marc Föcking untersucht in seinem Beitrag die Verquickung medizinischer und litera­rischer Diskurse im Frankreich des 19. Jahrhunderts und versucht in seiner Ana­lyse die Forderung nach realistischer, physiologischer Weltdarstellung im Kon­trast zur literarischen Fixierung auf psychologische Phänomene zu verstehen. Ent­sprechend liest er Flauberts Madame Bovary als konsequente Darstellung eines Falles von Hys­te­rie, die ursächlich durch die physiologischen Hindernisse im Be­gehren Emmas aus­ge­löst wird. Flaubert greift dabei, laut Föcking, den bestehen­den medizinischen Dis­kurs der Hysterieforschung Charcots auf und verdeutlicht so die Verbindung von Hysterie und Schauspiel auf intertextueller Ebene.

Wahnsinn ist in der russischen Literatur ein zentrales Thema, das sich wie ein roter Faden durch die Literaturgeschichte des Landes verfolgen lässt. Horst-Jürgen Gerigk nimmt diesen Faden auf und liefert in seinem Beitrag somit eine thematische Neu­ordnung der Literatur. Von Puschkin bis Samjatin verweist Gerigk auf die Be­schäf­tigung mit der geistigen Abweichung von Normalität und sieht die „Verrückten Russen“, wie sein Artikel heißt, in Zwiespalt mit ihrer traurigen Realität, literarisch stilisiert als Helden und romantisch verklärt als Radikale gegen die Umwelt. 

Yvonne Wübben gibt in ihrem Beitrag ein Fallbeispiel für die literarische Ver­hand­lung von Wahnsinn Anfang des 19. Jahrhunderts. In Büchners Darstellung des Falls des Dichters Lenz wird in seiner gleichnamigen Erzählung eine Verschränkung der me­di­zinischen Diskurse mit anderen Diskursfeldern deutlich. Vor allem, so Wübben, fun­giert Lenz als Leinwand, auf der Büchner diese Diskurse mittels für die Zeit ra­dikaler Erzählstrukturen in Verbindung bringt und vielseitig diskutiert. 

Der Beitrag von Johann Schmidt untersucht die Darstellung des Wahnsinns im Holly­wood-Kino zwischen 1940 und 1980 und setzt dabei zwei Schwerpunkte. Zum einen erfolgt eine detaillierte Analyse von Alfred Hitchcocks Psycho, die argumentiert, dass Hitchcock dem Zuschauer die verschwimmenden Grenzen von Normalität und Wahn­sinn mit filmischen Mitteln vor Augen führen wollte. Hitchcock wolle uns mit Psycho aufzeigen, so Schmidts Fazit, dass „die Grundlagen des Wahnsinns bereits in unserer Normalität nisten“. Zum anderen beschäftigt Schmidt sich mit der Darstellung der Heilung von Wahnsinn, die in Form mehrerer Anstaltsfilme eine zeitliche Ent­wick­lung erfahren hat. Von Hitchcocks Spellbound bis hin zu Formans One Flew Over the Cuckoo’s Nest analysiert Schmidt die Filme als ein Bild der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der Krankheit und ihrer Behandlung. 

Hans-Peter Rodenberg und Dennis Büscher-Ulbrich lesen in ihrem Beitrag in der Auseinandersetzung der Beat-Poets und Rockmusiker der 60er Jahre mit ab­weich­en­den Geisteszuständen, dem „temporär induzierten Wahnsinn“, eine Rück­be­sinnung auf orale Kulturen und schamanische Lebensweisen, die als zele­brierter Wider­stand gegen das „entfremdende Gesellschaftssystem“ zu verstehen sind. Rodenberg und Büscher-Ulbrich untersuchen die literarischen, aber auch musi­kalischen Verhandlungen eben dieser schamanistischen Erfahrungen und ver­stehen diese als gesellschaftlich erlaubten Einbruch eines ‚wahnsinnigen‘ Dis­kurses in die Norm. Das Experiment der Shaman-Poets wie Burroughs, Gins­berg, McClure oder der Musikgruppe „The Doors“ ist daher mehr als ein ein­fach­er Rauschzustand, es ist eine bewusste Erfahrung der Grenzen und eine Auf­lehnung gegen die gesell­schaftliche Definition von Normalität.

Der Beitrag von Peter Hühn bietet eine Analyse der Verbrechensromane von Ruth Rendell und Patricia Highsmith in Hinsicht auf den Wahnsinn als Motiv der handeln­den Figuren. Die Verletzung gesellschaftlicher Normen und die abweich­en­den Wahr­nehmungen der ‚wahn­sinnigen‘ Figuren sind dabei Schwerpunkt der Unter­such­ung­en, und die variable Verwendung des Motivs zur Erweiterung des genre­be­stimm­ten Plot­schemas wird anhand dreier Roman-Beispiele detailliert erläutert. So analysiert Hühn die Erzählungen in Hinsicht auf die Funktion des Wahnsinns, in den von ihm vor­gestellten Katastrophenplots der Verbrechensromane „unvorhersehbare, gefährliche Geschehensabläufe zu motivieren und entsprechende Spannung im Leser zu erzeu­gen“. Der Wahnsinn wird hier also zur zentralen Funktion in der Plot­ent­wicklung. 

Massenmörder bieten eine besonders interessante und in der populären Kultur weit verbreitete Figur, die ideal geeignet ist, die Kategorie von Normalität und Wahnsinn in einer Gesellschaft aufzuzeigen. Ihre realistisch-psychologische Darstellung ver­leitet zur Aburteilung und zur Bestätigung gesellschaftlicher Normen. Claudia Heuer jedoch liest in Bret Easton Ellis‘ Roman American Psycho beispielhaft eine Möglich­keit, durch die Verwendung von Satire und unzuverlässigem Erzählen über die normative Kate­gorisierung moralischer oder wahnsinniger Verhaltensweisen hin­aus ­zu ­gelangen und diese in Frage zu stellen. Die Unzuverlässigkeit Batemans als Erzähler ermöglicht einen satirischen Blick auf die Gesellschaft, die über die Kategorien von Wahnsinn und Normalität hier urteilen müsste, dies aber gerade verfehlt. 

Norbert Greiners Beitrag sieht in den Werken des gegenwärtigen Theaters, ins­be­sondere in den Stücken der britischen Dramatikerin Sarah Kane, eine Ver­hand­lung der Entmächtigung des Subjekts, die sich in der dramatischen Dar­stellung einer perversen Welt widerspiegelt. Die Stücke verhandeln Wahnsinn als Aus­druck des Schei­­terns von stabiler Identitätsbildung. Das Selbst ist aufgrund ver­fehlter, per­ver­tier­ter oder uner­füllter Liebesbeziehungen nicht in der Lage, eine sichere Position­ier­ung in der Welt zu finden und flüchtet in die Selbstaufgabe des Wahn­sinns. Die Stücke von Kane drücken diesen Wahnsinn in verstörenden Bild­folgen aus, stellen Wahn­sinn und Normalität nebeneinander und werfen die Frage auf, in welchen Diskursen diese Kategorien verhandelt werden. Und sie stellen Selbst­­verstümmelung, Vergewaltigung und Grau­sam­keit als Ausdruck dieser Dis­kurse dar. Der Wahnsinn der Figuren, die Selbst­ver­sehrung, fungiert als Kampf ge­gen die Entmächtigung, als Bestätigung einer prekären Situation und als Aus­druck einer unmöglichen Suche nach dem Selbst.  

Der Beitrag von Sophia Komor beschäftigt sich mit einem speziellen Subgenre, das die Beiträgerin als „Autopathographie“ bezeichnet. In zwei Werken junger Autor­in­nen, Elizabeth Wurtzels Prozac Nation und Susanna Kaysens Girl, Interrupted kriti­siert Komor die Fiktionalisierung der eigenen Krankheitsgeschichte als nicht reprä­sen­ta­tiv für eine Lebensgeschichte. Stattdessen sieht sie die Konzen­tration auf die eigene geistige Krankheit als literarischen Mangel und verweigert den Werken daher eine Aufnahme in die Gattung der Autobiographie. 

Der Beitrag von Lars Schmeink deutet das Bild des Mad Scientist als bestim­men­des Element eines modernen Mythos, durch den eine Verhandlung gesellschaft­licher Kategorien wie Mensch/Monster, Natur/Wissenschaft, Wahnsinn/Normalität mög­lich wird. Der verrückte Wissenschaftler wird dazu genutzt, in Form von Mytho­logie vor dem möglicherweise zerstörerischen Potential der mensch­lichen Kreativi­tät und vor technologisch-industrieller Hybris zu warnen und auf die Not­wendigkeit von Verant­wortung im Angesicht der eigenen Schöpfung zu verweisen. Der Beitrag deutet diese Muster als mythologische Form, die sich seit Mary Shelleys Fran­kenstein durch die populär-kulturelle Imagination zieht und zuletzt eindrucksvoll in Margaret Atwoods Roman Oryx and Crake einen aktuellen Ausdruck gefunden hat. 

Bibliografie

Carroll, Lewis. Alice’s Adventures in Wonderland and Through the Looking Glass. 1865. London: Penguin, 1998.

Fink-Eitel, Hinrich. Michel Foucault – Zur Einführung. Hamburg: Junius, 1990.

Foucault, Michel. Wahnsinn und Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1973.

Grensemann, Hermann (Hg.) Die hippokratische Schrift „Über die heilige Krankheit“. Berlin: De Gruyter, 1968. 

Porter, Roy. Madness – A Brief History. Oxford: Oxford UP, 2002.

Powers, Richard. The Echo Maker. New York: Picador, 2006.


[1]      Der folgende Abschnitt basiert auf Roy Porters zeitgeschichtlicher Zusammen­fassung Madness – A Brief History und sollte als erste, unvollständige Annäherung an das Thema mittels historischer Perspektive verstanden werden. 

Ursprünglich erschienen im Band Wahnsinn in der Kunst

Rohr, Susanne und Lars Schmeink. „Einführung: Wahnsinn in der Kunst“, Wahnsinn in der Kunst: Kulturelle Imaginationen vom Mittelalter bis zum 21. Jahrhundert. Hg. Susanne Rohr und Lars Schmeink. Trier: WVT, 2010. 1-7.