Julia Gatermann und Lars Schmeink

Tim Burtons Stil ist so ikonisch, dass er zum Inbegriff einer individuellen Ästhetik geworden ist, die es sogar bereits in die popkulturelle Umgangssprache geschafft hat. Der Eintrag zu „Burtonesque“ im Urban Dictionary beschreibt seinen Stil als „imaginative and fantastical“, verankert zwischen Gothic, Horror, Legende und Märchen. Seine Filme seien „surreal, avant-garde and expressionistic, the tone of which is commonly described as ‘dark’ and ‘gothic’“.

Auch die Filmwissenschaft scheint sich einig, dass zwei meist als gegensätzlich gesehene Aspekte Burtons Schaffen prägen: das Kindliche und das Monströse. So beschreibt Paul A. Woods Burtons Stil als „gothic-infantile aesthetic“ (5) und diagnostiziert seinen Geschichten eine „gothic fairy tale sensibility“ (9). Dabei steht der Disney-Konzern für Woods als Folie einer Sicht auf Kindheit, die Burton in seinen Filmen aufruft aber auch immer wieder unterläuft: „Burton’s internal Disneyland is one where the atmosphere of the Phantom Manor ride, with its joking and jeering corpses, and Snow White’s enchanted forest—where beautiful women become old crones, and the fear of pre-pubescent children stare out from gnarled tree trunks—hold sway“ (5).

Die Verbindung düsterer Themen wie sie in Gothic oder Horror verhandelt werden mit traditionellen Kinder- und Jugendgeschichten, denen es um zentrale Momente des Wachstums junger Menschen (geistig, sozial, körperlich) geht, scheint auf den ersten Blick ungewöhnlich. Doch gerade der Kindheit kommt in Burtons Werken eine besondere Bedeutung zu, sind seine Protagonisten doch stets geprägt durch oftmals traumatisierende Erlebnisse in ihrer frühen Jugend, die ihr Handeln, Fühlen und Denken noch als Erwachsene bestimmt. Burton selbst sagt dazu: „A lot of the things you see as a child remain with you … you spend a lot of your life trying to recapture the experience“ (zit. in Woods 5). Es ist vor allem diese emotionale Verbindung zu dieser Phase der Liminalität, auf der Schwelle zu Erwachsenwerden, um die es ihm in seinen Filmen geht. Kindern sei bewusst, „dass die Welt ein komplexer und oft auch finsterer Ort ist. Es wäre eine Lüge, wollte man versuchen, dies zu verschleiern“, erklärt Achim Sommer (26-7, zitiert in Stillhard 30). Burton setzt entsprechend sowohl seine kindlichen Protagonisten als auch Zuschauer bewusst furchteinflößenden Geschichten aus, da er Kindheit nicht als einen geschützten Raum begreift, der jenseits der Realität existiert, sondern als grundsätzlich „emotional schwierige Phase“ (Stillhard 65).

Durch seinen thematischen Fokus auf die Schattenseiten des Lebens hilft Burton Jugend­lichen, ihre Ängste und ihren Schmerz sowie Gefühle des Unverstandenseins und der Entfremdung zu verarbeiten. Wie Stillhard betont, verhandelt Burton in seinen Filmen Zustände kindlicher Einsamkeit, Ausgrenzung und ungefestigter Iden­ti­tä­ten sowie „Kindheitstraumata durch emotionale Vernachlässigung und unsichere Bindungen, von schwierigen Eltern-Kind-Beziehungen, schweren Schicksalsschlägen oder physischen Deformationen, die tiefe seelische und körperliche Spuren hinterlassen“ (56).

Entsprechend ist Burtons Einfluss, seine Verbindung von Kindlichkeit und Monstrosität – seine „gothic infantile aesthetic“ – nicht nur bei Filmschaffenden, sondern auch in der Jugendliteratur erkennbar, wo Autor*innen wie Neil Gaiman, Shirley Jackson, Marissa Meyer, Ransom Riggs oder Rick Yancey mit Versatzstücken der Gothic Fairy Tale spielen und sich ästhetisch wie thematisch in Burtons Repertoire bedienen. Rick Yanceys Roman The Monstrumologist (2009) etwa nutzt nicht nur Elemente klassischen Gothic-Erzählens, ein Setting im 19. Jahrhundert, und eine Nähe zu und Kritik an Wissenschaft, sondern auch eine typische Figuren­konstellation rund um das Motiv des „traumas of abandonment—Burton’s favored psychodramatic motif“ (Taylor 108). In diesem Sinne kann man Will Henry, den jungen Protagonisten des Romans, als Beispiel eines Burtonesquen Helden lesen, der inmitten finsterer und desorientierender Lebensumstände seinen Weg finden und die Schwelle zu Erwachsenwerden unter monströsen Umständen überschreiten muss.

Schon das Setting besitzt wie viele von Burtons Filmen eine „Gothic foundation“ (Carver 125), die Yancey geschickt nutzt, um eine Atmosphäre von sozialer Isolation für seinen Protagonisten zu erzeugen. Nachdem der zwölfjährige Will beide Eltern in einem schrecklichen Feuer verloren hat, eine Katastrophe, die seine bisherige Welt hat zusammenbrechen lassen, wird er vom ehemaligen Dienstherren seines Vaters, dem Monstrumologen Dr. Pellinore Warthrop aufgenommen. Vom Trauma seiner Erinnerungen an die Nacht des Feuers tief gezeichnet, an dem Warthrop zumindest indirekt eine Mitschuld trägt, findet er im Haushalt des abweisenden und gefühlskalten Wissenschaftlers wenig Trost, zumal ihm hier die grauenerregenden und oft lebensgefährlichen Aufgaben zufallen, die einst seinem Vater oblagen: nämlich dem Doktor bei seinem Studium von ‚abnormaler Biologie‘ zur Hand zu gehen – sprich: dem Jagen und Sezieren von Monstern. Da die Monstrumologie, der bereits Warthrops Vater nachging, gesellschaftlich auf wenig Akzeptanz stößt, führt der Doktor ein Leben in Abgeschiedenheit. Obwohl die Familie der Oberschicht angehört und einst höchstes Ansehen genoss, ist Warthrop geächtet, wenn nicht gar gefürchtet von den übrigen Bewohnern des beschaulichen Ortes New Jerusalem im New England des 19. Jahrhunderts.

1. Will Henry und das Trauma des Verlusts

Doch nicht nur im Setting nutzt Yancey, wie auch Burton, eine „Gothic foundation“ (Carver 125) und intertextuelle Verweise, um seine Geschichte zu vermitteln. Einen ähnlichen Bezug zum traditionellen Gothic-Genre bietet auch die epistolare Erzählform, die um eine Rahmenhandlung ergänzt ein Gefühl von Authentizität vermitteln soll. So ist es die Figur des Autors, Rick Yancey selbst, der ganz wie bei Nathaniel Hawthornes The Scarlet Letter im Rahmen des Romans die Tagebücher Will Henrys seinem Publikum als Fundstück präsentiert, inklusive kurzen Anmerkungen zu Nachforschungen ob deren Echtheit.

Entsprechend ist es Will Henry nunmehr ein alter Mann, der sich an den nächtlichen ‚Besucher‘ in seiner Jugend erinnert, der mit seinem anlässlich von Grabräuberei gemachten schaurigen Fund an des Doktors Tür klopft. Die darauf folgende grauenerregende Autopsie der exhumierten Frauenleiche, umschlungen von einem Monster, lässt dem über­näch­tigten Will, zuständig für Protokoll und Handreichungen, das Blut in den Adern gefrieren. Diese frühe Szene im Roman erinnert unweigerlich an Burtons Sleepy Hollow (1999) und macht bereits erste Parallelen zwischen Yanceys und Burtons Figuren deutlich. Wenn der von oben bis unten mit Blut besudelte Warthrop Will aus dem Schlaf hochjagt und ihn mit seinem Anblick beinahe zu Tode erschreckt, erinnert der grotesk-makabre Humor an Burton, dessen Ichabod Crane, nach einer Autopsie blutüberströmt vor die Tür des Behandlungszimmers tritt um seine Erkenntnisse zu verkünden und damit blankes Entsetzen bei den Bewohnern von Sleepy Hollow auslöst. Burtons Figur ist von tiefem Trauma geprägt und durchlebt in Albträumen immer wieder den gewaltsamen Tod seiner Mutter durch die Hand seines autoritären Vaters, der zur Durchsetzung seiner Prinzipien nicht einmal vor der Tötung seiner eigenen Frau zurückschreckt.

Wie Colin Odell und Michelle Le Blanc feststellen, formt der Verlust der Eltern die Charaktere Burtons stark: „The origins of a character, particularly concerning their parents (or lack of them), form a significant contribution to their psyche“ (16, vgl. auch Weinstock 17). Yancey stellt das Trauma des Verlusts ebenfalls als formend für seine Protagonisten dar und macht es zum prägenden Motiv in Will Henrys Entwicklung. Hierzu nutzt der Roman verschiedene Figuren als Doppelungen, die – ganz in der Tradition des Gothic (vgl. Botting 11) – unterschiedliche psychologischen Aspekte Will Henrys spiegeln.

Eine dieser Spiegelfiguren, die Wills traumatischen Verlust von Familie teilt, ist der einzige Überlebende eines nächtlichen Angriffs der Anthropophagen, Malachi Stinnet. Beide Jungen quälen sich mit dem Gefühl, ihre Familie in Stich gelassen zu haben, als sie ihr eigenes Leben retteten, eine Schuld, die eine besondere Verbindung zwischen ihnen entstehen lässt. Ursächlich verantwortlich macht Malachi hingegen Warthrop, der bereits vier Tage lang von der Bedrohung gewusst und absichtlich auf die Benachrichtigung des Constables verzichtet und damit eine Evakuierung des Ortes verhindert hatte. Warthrop, wie Malachi ihm unterstellt, wollte den Namen seiner Familie schützen, war es doch sein eigener Vater, der Jahrzehnte zuvor die Anthropophagen nach New England importiert hatte.

Auch Will’s eigenes Familiendrama geht ursächlich auf Warthrop zurück, denn das Feuer wurde durch James Henrys Versuch ausgelöst, sich im Delirium von Parasiten zu befreien, die ihn während einer von Warthrops Expeditionen befallen hatten und über den Verlauf von zwei Wochen schmerzvoll von innen heraus zerfraßen. Will kann Malachis Position nur allzu gut nachvollziehen: „My empathy toward his suffering was acute, for he and I were fellow sojourners in the forbidding kingdom wherein all roads led to that singular nullity of fathomless grief and immeasurable guilt” (336). Doch anders als Malachi ergibt er sich nicht seinem Schmerz, sondern überwindet ihn. Insofern dient Malachi auch als Kontrastfigur für Will, erweist er sich doch letzten Endes als dessen ‘schwächere Version’, um der Rhetorik hegemonialer Maskulinität des Romans ein Stück weit zu folgen: anders als Will gelingt es ihm nicht, sich seiner Monster zu entledigen. Weder tötet er Warthrop, dem er in einem Ausbruch von Verzweiflung die Waffe auf die Stirn setzt, sich dann jedoch von Will abhalten lässt – „you would take everything from me […]. He is all I have“ (256) – noch die Matriarchin der Anthro­­pophagen, die seine Eltern und Geschwister im Blutrausch in Stücke gerissen haben. Es gelingt ihm nicht, sein Trauma zu überwinden und den Verlust seiner Familie zu akzeptieren. Er ergibt sich seinem Schicksal willentlich, jedoch letztlich ohne Konsequenz: als er sich von der Matriarchin in die Tiefe hinabziehen lässt, die Handgranate fest umklammert, um sie mit in den Tod zu reißen, schirmt sein eigener Körper sie von der Explosion ab. Sie überlebt, sodass es schließlich an Will ist, das zu tun, was Malachi nicht konnte, und beweist damit, dass er die Konventionen von hegemonialer Maskulinität erlernt und damit den Schritt zum Erwachsenwerden vollzogen hat (vgl. Connors 98).

Zu den Vorbildern, die Will Henry zur Orientierung in seiner Entwicklung zur Verfügung stehen, bemerkt Sean Connors, dass Männer die Welt des Monstrumologist dominieren – Wissenschaftler, Ärzte, Kapitäne, Rechtshüter und Abenteurer – während Frauen wenig schmeichelhafte und stereotype Rollen zukommen – Jungfrau, Hure, Greisin und zänkische Ehefrau (vgl. 94). Zudem ist auch das Monster des Romans explizit weiblich, die „Matriarchin“ der Anthropophagen, das ultimativ ‚Andere‘, das es den männlichen Figuren überhaupt erst erlaubt, die Grenzen des Selbst abzustecken und darüber Identität herzustellen. Yanceys Roman ist eine Coming-of- Age-Geschichte, in der ein heranwachsender Junge sich finden und zwischen unterschiedlichen männlichen Rollenvorbildern navigieren muss. Die Identifikationsfiguren leben eine Form von Männlichkeit vor, die von zielstrebiger und kalter Rationalität geprägt ist.

Auch hierin findet sich eine Parallele zu Burton, insofern als dass Eltern ihre Kinder formen und sich in ihnen spiegeln; sie dienen als positive Rollenvorbilder, die es zu emulieren gilt: „In fact, a keystone of Burton is that every hero’s task is to become his father“ (McMahan 68). Dies gilt auch weiterhin, wenn Eltern als Autoritätsfiguren fungieren: „parents [are] typically (although not always) presented as disciplining forces of normalization that seek to straightjacket the child’s imagination and sense of individuality“ (Weinstock 17). Während Burton in seinen Filmen die vielseitigen Aspekte solcher Eltern-Kind-Beziehungen ausspielt, setzt Yancey Will Henry einer stark konformistischen Welt aus, in der der Junge erst als erwachsen gilt, wenn er sich anpasst und das Monster tötet – und damit der von seinem Vater wie von seinem Mentor vorgegebene Rolle gerecht wird.    

Plakatives Symbol für diesen Weg zum Erwachsenwerden ist hierbei vor allem ein Gegenstand: Will Henrys kleiner Filzhut, mittlerweile viel zu eng, den ihm sein Vater von einer der gefährlichen Expeditionen mitgebracht hat, die ihn im Dienste Warthrops oft für lange Zeit von zu Hause fernhielten. Will wird – wie Burtons Ichabod Crane – auch ein Jahr nach dem schrecklichen Ereignis noch immer jede Nacht von Albträumen geplagt; sein Hut ist der einzige weltliche Besitz, der ihm nach dem Feuer noch verblieben ist, sein letztes Andenken an seine Eltern. Der alte Grabräuber, mit dem sich Will und Warthrop auf die Spuren der Antropophagen setzen, bemerkt darüber: „It’s much too small for a strapping young man such as yourself. A fully-grown man should have a man’s full-grown hat” (53) und setzt ihm spielerisch seinen eigenen, viel zu großen auf. An dieser Stelle wird Wills eigene, unsichere Position deutlich, zwischen seinem Festhalten an seiner Kindheit, seiner Unfähigkeit, den Verlust seiner Eltern zu akzeptieren, und den Erwartungen seines Umfelds, seine Rolle voll auszufüllen und den Gefahren der Monsterjagd souverän und kühlen Verstandes entgegenzutreten – Will befindet sich noch im liminalen Raum zwischen beiden Identitäten. Im Verlauf des Romans wird immer wieder das Symbol des Hutes aufgegriffen, um an Wills Ringen um Eigenständigkeit und Abgrenzung zum Verlust der Eltern zu erinnern.

Besonders am Ende kommt diesem Bedeutungsträger entsprechend die wichtige Rolle zu, die vollzogene Entwicklung zu verdeutlichen: Eines Morgens findet Will am Haken neben seinem Bett zusätzlich zu seinem alten, zu kleinen Filzhut einen neuen, in den zudem seine Initialen gestickt sind. Als er nach unten kommt, trifft er Warthrop vor dem Kamin an, wo dieser die letzten Habseligkeiten seines eigenen Vaters verbrennt und so seinerseits eine finale Abgrenzung vollzieht. Mit der Erkenntnis, dass ein Feuer zwar zerstörende, aber ebenfalls reinigende Kraft besitze, wirft Will seinen alten Hut in mit die Flammen, was ihm ein anerkennendes Nicken seines Mentors einbringt – auch auf dieser symbolischen Ebene ist nun sein Abschied von seiner Kindheit vollzogen.

Ebenfalls am Schluss des Romans entdeckt Warthrop, dass Will offenbar denselben Parasiten in seinem Blut trägt wie sein Vater James Henry. Will wird also gleich auf mehreren Ebenen zu seinem eigenen Vater. Der Parasit ist eine weitere Bürde, zusätzlich zu der, die Arbeit seines Vaters als Warthrops Assistent fortführen zu müssen. Anders als bei James, vermehrt sich die fadenwurmartige Kreatur aber nicht unkontrolliert in Wills Körper: ein seltener Fall von Symbiose, in dem der mythenumwobene Biminius arawakus seinem Wirt ein übernatürlich langes Leben gewährt. Ängstlich fragt Will daraufhin den Monstrumologen: „‘Does that mean I’ll never grow up?’ He lifted my new hat, his first gift to me, from my lap and dropped it upon my head. ‘Or that you will live forever—to carry on my work. Talk about turning burdens into blessings!’” (426–27). Bezeichnenderweise ist es Warthrop, nicht Will selbst, der ihm den neuen Hut, Zeichen seines neuerworbenen Mann­seins aufstülpt. Kaum hat sich Will von seinen Eltern gelöst, wird ihm seine Identität von seinem Mentor zugeschrieben, eine weitere Vater- und Spiegelfigur für ihn.

2. Pellinor Warthrop und die komplexe Vaterfigur

Wie Will trägt auch Pellinore Warthrop die Last des Erbes seines eigenen Vaters, Alistair Warthrop, seines Zeichens ebenfalls Monstrumologe und einst eine Koryphäe auf diesem Gebiet, wie sein Sohn mit widerwilliger Ehrfurcht eingesteht. Diese Bürde wurde Warthrop gewissermaßen bereits in die Wiege gelegt, denn „his father had named him Pellinore in honor of the mythical king who quested after a beast that could not be caught, an act of thoughtless cruelty, perhaps; at the least a fateful portent, the passing on of a hereditary malady, the familial curse” (426). Zudem trägt Warthrop schwer an der Blutschuld seines Vaters, der durch seine Hybris, die Anthropophagen kontrollierbar machen zu wollen, um sie als Waffen einsetzen zu können, für das Blutbad in New Jerusalem verantwortlich zeichnet. Warthrop ist bereit, den ultimativen Preis für die Vermessenheit seines Vaters zu zahlen und sich selbst zu opfern. Er schreibt der Matriarchin der Anthropophagen das Motiv zu, Rache an dem längst verstorbenen Alistair Warthrop üben zu wollen und grübelt finster: „I wonder […] if she would be satisfied with his son“ (250). Als sich die Handlung ihrem Höhepunkt zuneigt und sich die Monsterjäger in die Familiengruft der Warthrops begeben, die symbolträchtige Wohn- und Brutstätte der Anthropophagen, bricht ein Streit darüber aus, wem das Recht zustehe, als erster in die Höhle der Monster hinabzusteigen. Sowohl Malachi, der seine Schuld abtragen will, als auch der professionelle Großwildjäger und Monstrumologe Jack Kearns fordern das Recht ein. Warthrop beendet die Debatte jedoch kurzerhand mit dem Argument, dass die potenziell tödliche Führungsposition dieser Expedition sein Erbe sei – niemand in der Runde wagt es, diese Rechtfertigung anzufechten.

Warthrop geht der obskuren Wissenschaft der Monstru­mologie mit äußerster Leidenschaft nach. Wenn ihn erst einmal das ‚Jagdfieber‘ gepackt hat, nimmt er um sich herum kaum noch etwas anderes wahr, schläft und isst tagelang nichts und vergräbt sich in seinem finsteren, kalten Keller, in dem er die aberranten Ausformungen des Lebens seziert und katalogisiert. Er ist ein skurriler, introvertierter, mürrischer, egozentrischer, meist übellauniger und zur Melancholie neigender Außenseiter, der, dem Stereotyp gemäß, ein Genie in seinem Bereich ist. Bei den Bewohnern des Dorfes genießt er alles andere als einen guten Ruf: „He’s a queer man with queerer habits […]. As was his father and his father’s father. All the Warthrops were queer“, wie Mrs. Flanagan sich entrüstet (194). Hierin erinnert er an Burtons Antihelden, die sich mit ihrem Beharren auf ihren Obsessionen, denen sie, blind für alles andere, um jeden Preis nachjagen, zum Narren machen (vgl. von Matt 138) und bei ihren Mitmenschen auf Unverständnis und Ablehnung stoßen. Pellinore Warthrop ist eine solche zerrissene und sozial isolierte Figur, oder wie Christian Heger über Burtons missverstandene Hauptfiguren schreibt:

Immer geht es in seinen Filmen um gesellschaftliche Außenseiter, um die sogenannten Freaks und Outcasts, emotional Versehrte und scheue Sonderlinge, deren passionierte phantasiebegabte Seelen ein ums andere Mal in tragischen Konflikt mit dem Moralkodex der sie umgebenden Mitwelt geraten. (15)

Wie viele von Burtons Charakteren, trägt auch Warthrop tiefe Narben aus seiner Kindheit auf seiner Seele, die ihn zu dem gemacht haben, was er ist.

Wie Will einem Brief entnimmt, den er im Nachlass Alistair Warthrops findet und aus Neugier heimlich liest, um mehr über seinen so verschlossenen wie unnahbaren Mentor zu erfahren, wurde Pellinore als Junge in Wills Alter auf ein Internat nach England geschickt. Obwohl Pellinore in seinen akademischen Leistungen brilliert, leidet er schrecklich an Heimweh und Einsamkeit und fleht seinen Vater um Antwort auf seine Zeilen an, hat er doch bisher keinen einzigen Brief aus der Heimat erhalten. Die Tatsache, dass Will den Brief mit ungebrochenen Siegel vorfindet, spricht Bände über das Verhältnis zwischen Vater und Sohn. Dieser Eindruck wird später bestätigt, als Warthrop Will während einer seiner depressiven Episoden nachts an sein Bett ruft, und ihm in einem seltenen Anfall von Redseligkeit über seinen Vater anvertraut: “I hardly knew him at all […]. Less so than most sons their fathers, I would venture, but the theory fits what I do know about the facts. Only passion for his work could compel him to associate with traitors. It was all he had; he loved nothing else. Nothing” (214). Pellinore Warthrop hat sich zeitlebens vergeblich um die Anerkennung seines Vaters bemüht, und dass er in dessen Fußstapfen getreten und sich der Monstrumologie verschrieben hat, ist ebenfalls diesem Sehnen geschuldet. Wie Kearns bissig über ihn bemerkt, sei er doch eigentlich viel zu sensibel für ein so düsteres und schmutziges Metier, und habe wohl nur dieses Handwerk ergriffen, um endlich von seinem Vater wahrgenommen zu werden (282). Hinter Pellinores harter Maske aus Disziplin und Rationalität verbirgt sich eine Zerbrechlichkeit und Verletzlichkeit, die von einem Kindheitstrauma herrührt, das durch eine ebensolche Gefühlskälte geschaffen wurde. Wie eingangs über Burtons Helden bemerkt, ist auch Pellinore Warthrop eine „melancholic outsider figure[] damaged by secreted and traumatic familial pasts“ (Taylor 108).

Hierin spiegelt Warthrop ebenfalls Will Henry, der immer wieder durch dessen Kälte, mangelnde Empathie und schonungslose Egozentrik verletzt wird. Bei der Beerdigung von Wills Eltern legt dieser dem völlig orientierungslosen Waisenjungen die Hand auf die Schulter und klagt: „I don’t know what I shall do now, Will Henry. Their services were indispensable to me“ (31), ohne sich auch nur im Mindesten klarzumachen, dass er mit einem Kind spricht, dessen ganze Welt gerade zusammengebrochen ist. Nachdem er Will bei sich aufgenommen hat, als seinen Assistenten, um die Lücke zu füllen, die sein Vater gerissen hat, spendet er Will keinerlei Trost, sondern überlässt ihn seiner Trauer und Verzweiflung:

There were times, in the beginning of my service to the monstrumologist, when I was certain he must have heard my keening wails long into the night—heard them, and did nothing. He rarely brought up my parents or the night they died. When he did, it was usually to chastise me, as he had the night we’d returned from the cemetery: Your father would have understood. (259; Hervorhebung im Original).

Warthrop verlangt von Will, dass dieser sich wie ein Erwachsener verhält, mehr noch, wie ein „soldier for science“ (17), der tapfer seine Pflicht erfüllt und Haltung bewahrt im Angesicht des Grauens, das ausgewachsene Männer schreiend davonlaufen laufen ließe. Auf die wiederholt ungläubige Frage, dass man ja wohl kaum einen Jungen solch haarsträubenden Gefahren aussetzen könne, antwortet der Doktor stets: „Will Henry is my assistant […] A child by outward appearance, perhaps, but mature beyond his years and hardier than he might seem to the unfamiliar eye. His services are indispensable to me.“ (46). Diese hoffnungslose Überforderung eines stark traumatisierten, erst kürzlich verwaisten Jungen findet innerhalb eines hegemonial maskulinen Rollenverständnisses statt, das Will das Recht abspricht, seine Gefühle zu erleben und ihnen Ausdruck zu verleihen. Und Will brennt – wiederum in einer Spiegelung von Warthrops Verhältnis zu seinem eigenen Vater – trotz seiner unablässigen und durchaus gerechtfertigten Kritik des Doktors, auf nichts mehr als die Anerkennung des Monstrumologen.

Wills Handeln liegt stets die Absicht zugrunde, den Ansprüchen des Doktors zu genügen, oder diese wenn möglich gar zu übertreffen. Bei seinen Einkäufen im Dorf zum Beispiel, gelingt es ihm die belanglose Unterhaltung mit dem Schlachter so zu lenken, dass er schließlich wichtige Hinweise zur Aufklärung des Rätsels erhält, warum Alistair Warthrop gefährliche Kreaturen nach Neuengland hat bringen lassen. Als er aufgeregt und mit stolzgeschwellter Brust dem Monstrumulogen berichtet, was er in Erfahrung bringen konnte, reagiert dieser jedoch entgegen Wills Erwartungen mit äußerster Feindseligkeit. Besorgt, sein Vater könne als Landesverräter dastehen, schleudert er dem schockierten Jungen entgegen:

You have failed me, Will Henry. […] And worse. You have betrayed me. […] And for what? To play the amateur detective, to satisfy your own insatiable curiosity, to humiliate me by participating in the same gossip and backstabbing that drove my father into seclusion and ultimately to his grave a broken and bitter man. [N]ow I know your loyalty extends only as far as the bounds of your selfishness, and blind, total, unquestioning loyalty is the one indispensable quality I demand of you. (203)

Warthrops Stolz und Eitelkeit sind verletzt, stürzen sie doch seinen eigenen Vater vom Podest, auf das er ihn gehoben hatte. Der Monstrumologe fühlt sich von der Welt unverstanden und seine Isolation scheint nur zum Teil selbstgewählt. Dies macht ihn in gewissem Sinne zu einer Burtonesquen Figur: „Nicht selten sind Burtons Figuren gequälte Seelen, da sie gleichzeitig von einer Sehnsucht nach und der Ablehnung von gesellschaftlicher Zugehörigkeit getrieben sind, aus zerrissenen Familienverhältnissen stammen und während ihrer Kindheit ein für sie zeitlebens traumatisierendes Erlebnis erleiden“ (Stillhard 3).

Anstatt Verantwortlichkeit für seinen Außenseiterstatus bei sich selbst zu suchen, fällt es Warthrop scheinbar leichter, arrogant seine Mitmenschen, Will eingeschlossen, abzuurteilen und alle Schuld im Außen zu suchen. Dies führt zu einem Bruch im bereits konfliktbehafteten Verhältnis zwischen ihm und Will, den er mit seinen Worten so tief verletzt hat, dass sich dieser in die Sicherheit seines Zimmers zurückzieht, um sich dort in Ruhe seinen Tränen hingeben zu können, und sich überdies im Weiteren zunächst vom Doktor distanziert.

Will, der sich aufgrund von Warthrops Unfähigkeit, etwas auch nur halbwegs Genießbares zuzubereiten, um die häuslichen Belange wie Putzen, Einkaufen und Kochen kümmert, lässt den Doktor in seinem Ärger zunächst darben. Dies hat schließlich zur Folge, dass der erwachsene Mann des Nachts in eine seiner melancholischen Episoden verfällt und Will durch seine wehleidigen Rufe aus seinen Träumen reißt und an seine Bettstatt zitiert, wo der völlig übermüdete und noch immer vom vorherigen Streit verletzte Junge ihm Tee und Scones servieren und ihm seine Einsamkeit vertreiben muss.

Der zutiefst stolze Mann bringt es nicht über sich, Wills wohlmeinende Fürsorge anzuerkennen. An anderer Stelle lehnt er es ab, Wills Suppe auch nur zu kosten, die dieser für den Doktor gekocht hat, eine weitere Zurückweisung, unter der der Junge leidet. Warthrops Schroffheit erklärt sich möglicherweise durch das Bewusstsein, dass er, in seiner Inadäquatheit als Fürsorger, Will in eine Rolle drängt, die ihm nicht angemessen ist:

Stop that insufferable sniveling. I did not take you in to be my cook or my nursemaid or for any reason beyond the obligation I owed your father for his unselfish service. You have potential, Will Henry. You are clever and inquisitive and are not without some mettle in your marrow, indispensable qualities in an assistant and, perhaps, a future scientist, but don’t suffer under any illusions that you are more than that: an assistant forced upon me by unfortunate circumstances. You are not here to provide for me; I am here to provide for you. (117)

Diese Erkenntnis, so zutreffend sie auch sein mag, bleibt jedoch ohne Konsequenzen.

Will Henry, ein überaus einfühlsamer und empathischer Junge, leistet die gesamte emotionale Arbeit in der Beziehung zwischen den beiden. Hierin demonstriert er Eigenschaften, die üblicherweise weiblich konnotiert sind und damit so gar nicht in das Rollenbild passen wollen, dass sowohl die Gesellschaft der dargestellten Zeit im Allgemeinen als auch Warthrop im Speziellen von ihm erwartet. Will zeigt Mitgefühl mit anderen, weint, wenn der Doktor ihn mit seiner abweisenden Art verletzt, kümmert sich um den Haushalt und die Gäste und spendet seinem Mentor Trost und Zuspruch, wenn dieser von seinen Depressionen überwältigt wird. Dies macht seine Dienste ‚unentbehrlich‘ für den Doktor, wie dieser wiederholt bemerkt. In vielfacher Hinsicht ist er damit das Gegenstück zu dem gefühlskalten, zumeist von Rationalität und Zielstrebigkeit geprägten Monstru­mo­logen, dessen Ausprägung von  Männlichkeit im Vergleich monströs erscheinen kann, wie Malachi feststellt: „he is what he hunts“ (262).

Malachis vernichtendes Urteil über den Monstrumologen kann weder von den Leser*innen geteilt werden – immerhin liefert der Roman eine durchaus komplexe Charakterdarstellung von Warthrop, die ihn uns, nicht zuletzt aufgrund seiner traumatischen Kindheit bedauern lassen – noch von Will. Trotz aller Distanz im Verhältnis zwischen ihnen besteht doch ein starkes emotionales Band. Nachdem Will, von Jack Kearns betrogen und als Köder missbraucht, beinahe den Anthropophagen zum Opfer gefallen wäre, ist der Doktor außer sich: „He pulled me into his chest and whispered fiercely into my ear, ‘I told you that you are indispensable to me. Do you think I lied, Will Henry? I may be a fool and a terrible scientist, blinded by ambition and pride to the most obvious truths, but one thing I am not is a liar’” (388). Wie Will bemerkt, waren es zuvor doch stets seine Dienste, die nicht zu ersetzen waren; in diesem emotionalen Ausnahmezustand jedoch geht War­throp soweit, einzugestehen, dass es Will selbst ist, der ihm unentbehrlich ist. Der Monstrumologe legt eine nahezu unerträgliche Arroganz an den Tag, hat Schwierigkeiten, Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen und zu unterhalten, und ist unfähig, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen; er zeigt eine unentschuldbare Verantwortungslosigkeit, indem er seinen jungen Schützling nicht nur sträflich vernachlässigt, sondern ihn immer wieder wissentlich tödlichen Gefahren aussetzt, wenn es seinen eigenen Zwecken dient. Dies lässt ihn kalt und unmenschlich – ‚montrös‘ – wirken.

3. Vorbilder des Erwachsenseins

Diese Darstellung in ihrer Bewertung als negativ wird zu einem gewissen Grad unterwandert durch die Kontrastfigur Jack Kearns, wie Sean Connors festhält. Kearns, ebenfalls Spiegelfigur für Will und Warthrop, verkörpert die dunkle Seite in ihnen, das ‚Animalische‘, wenn man so will. Er liest Nietzsche, bewundert den bedingungslosen Überlebensdrang der Kreaturen, die er jagt, und deren Status als apex predators; er lebt ohne Reue, und ist bereit, jederzeit zu sterben, wenn es denn jemandem gelingen sollte, ihn zu töten. Im Verlauf des Romans müssen wir erkennen, dass er ein brutaler Sadist und Mörder ist (Anspielungen im Roman identifizieren ihn als Jack the Ripper), und nicht einmal davor zurückschreckt, Will den Anthropophagen zum Fraß vorzuwerfen, wenn es ihm denn eine bessere Schusslinie auf seine Beute ermöglicht. In Kearns manifestieren sich einige der negativsten Eigenschaften Warthrops in Extremform.

Doch selbst bei diesem Charakter kann uns eine vollkommene moralische Verurteilung nicht gelingen; wie bereits bei Warthrop, bekommen wir auch hier eine Erklärung für den Außenseiterstatus des Monsterjägers: in Burtonesquer Manier ist auch er tief gezeichnet von einem Kindheitstrauma, war doch seine früheste Jugend von Ablehnung und dem Verstoßenwerden durch die eigene Mutter geprägt (hierin erinnert er an Burtons Oswald Cobblepot, dem Bösewicht in Batman). Wie Ingrid Tomkowiak bemerkt, setzt Burton in seinen Filmen Rückblenden auf traumatische Kindheitserlebnisse geschickt zur Sympathielenkung ein: „Burton wendet die Strategie des emotionalen Mixes an. Insbesondere wenn es um Kindheitstraumata geht, ist es in seinen Filmen gar nicht mehr komisch, sondern es geht um die Erzeugung von Empathie“ (366). Burton geht es in seinen Filmen vornehmlich um das Erzeugen von Emotionen, mit deren Hilfe sich gesellschaftliche Normen und Konventionen hinterfragen lassen. Auch Yancey greift auf diese Methode zurück und verkompliziert hierdurch das Fällen von Urteilen. In der Retrospektive seiner Tagebücher zeichnet Will den Weg seiner Entwicklung nach, und es sind vor allem Emotionen, die zu navigieren und zu beherrschen er lernen muss, um seine eigene Identität zu finden. Zur Orientierung stehen ihm jedoch allenfalls höchst problematische Vorbilder zur Verfügung. Das Bild von Maskulinität, das im Roman gezeichnet wird, ist toxisch – tatsächlich gibt es wenig durchweg positive männliche Identifikationsfiguren. Der Roman etabliert Kearns‘ Form von Männlichkeit als das ultimativ negative Beispiel, gegenüber der die von Warthrop und anderen Figuren als deutlich sanfter und positiver erscheinen kann. Gerade die das ‚Animalische‘ sublimierende Disziplin und Rationalität des Doktors, deren Kehrseite seine Gefühlskälte ist, macht ihn, so scheint der Roman zu suggerieren, letztlich doch zu einem geeigneten Rollenvorbild für Will Henry. Will, seinem eigentlichen Naturell nach durchaus warmherzig und mitfühlend, passt sich im Zuge der Entwicklung, die er im Verlaufe des Romans durchmacht, in seinem Verhalten seinem Mentor nach und nach an. Er wird zunehmend abgebrühter, behält seine Ängste unter Kontrolle und beweist letztendlich Nerven aus Stahl, als er mit eiskaltem Kalkül die Matriarchin mit der letzten ihm verbliebenen Kugel in der Waffe tötet – ein Schritt, der ihn in die Welt der Erwachsenen initiiert und ihm endlich zumindest ein wenig der so ersehnten Anerkennung einbringt.

Yanceys Roman ist geprägt von Charakteren, die abseits der normativen Gesellschaft agieren. In der Jugendliteratur, in der ja gerade das Überschreiten der Schwelle von Kindheit zum Erwachsenwerden verhandelt wird, das Abgrenzen von „Normen, Werte[n] und Autorität der Eltern“, eigne sich die „Figur des kindlichen Außenseiters“ ganz besonders gut, um den Prozess der Identitätsfindung darzustellen, wie Stillhard festhält (53); in dieser schmerzlichen Phase des Umbruch müssten Kinder „Abschied nehmen vom Bekannten“ (54).

Die Kindheit zu Verlassen bedeutet in gewissem Maße, die Sicherheit von moralischer Eindeutigkeit zu verlassen. Ein Abgrenzen vom ‚moralischen Kompass‘ der Eltern bzw. der elterlichen Identifikationsfiguren bedeutet ein Eintreten in eine Welt aus Grautönen anstatt von klarem Schwarz und Weiß. Diese neue Eigenverantwortlichkeit kann desorientierend sein, und so werden auch bei Burton die kindlichen Außenseiter stets als Suchende dargestellt, die ihren Weg zwischen Anpassung und Individualität erst noch finden müssen und von innerlicher Zerrissenheit geprägt sind. Will Henry macht in Yanceys Roman eine solche Entwicklung durch, rebelliert zunächst gegen die an ihn gestellten Erwartungen, obgleich er sich nach Liebe und Anerkennung durch seinen Mentor sehnt, und vollzieht letztendlich den Schritt, der ihn in die Gemeinschaft der Erwachsenen integriert – der Preis hierfür ist, dass er einen Teil seiner Empathie und Sensibilität opfert, seiner Menschlichkeit. Am Ende dieser Reise erfüllt er seine Rolle als Assistent des Monstrumologen im eigentlichen Sinne: Er hat seine ersten eigenen Monster getötet, und wird damit dem ihm auferlegten Erbe gerecht – er verwandelt sich, in diesem Sinne, in seinen eigenen Vater. Dies bedeutet jedoch mitnichten, dass er auch die Dämonen seines Kindheitstraumas loswird: tatsächlich ist es genau in dem Moment, da er seine neue Rolle akzeptiert, dass sich das volle Ausmaß dieses Erbes offenbart: der Parasit, der ihm durch seinen Vater übertragen wurde, Biminius arawakus, symbolträchtiges Nebenprodukt seiner Monsterjagd, lebt nun auch in Will fort und wirft fortan einen Schatten des Monströsen auf ihn – die tatsächlichen Folgen für ihn lassen sich noch nicht abschätzen.

Zitierte Werke:

  • Botting, Fred. Gothic. Routledge, 1996.
  • “Burtonesque”. Lemma. Urban Dictionary. 28.02.2009. Web. <https://www.urbandictionary.com/define.php?term=Burtonesque>.
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Im Original erschienen in:

Gatermann, Julia und Lars Schmeink. „Die Burtonesque Characterzeichnung in Rick Yanceys Coming-of-Age Roman The Monstrumologist.“ „Bring Me That Horizon!“: Neue Perspektiven auf Ästhetik und Praxis populärer Literaturen und Medien. Festschrift für Ingrid Tomkowiak. Hg. Brigitte Frizzoni und Christine Lötscher, Zürich: Chronos, 2020. 183–97.