8. Jahrestagung der GFF
GFF 2017: Wirklichkeiten und Weltenbauen
Universität Wien, 20.-23.09.2017
Das Schaffen, Erfahren und Mitgestalten neuer Welten ist zentraler Teil des Reizes, den die Fantastik bietet – vom Erleben Mittelerdes bis hin zum Weltraum, dessen „unendliche Weiten“ in beinah ebenso unendlichen Narrativen befüllt und gekrümmt wurden. Beinah unendlich scheint auch der „Welt“-Begriff in einem solchen Kontext zu sein: Die Fantastik erschafft und variiert soziale und kulturelle Systeme, Ideologien, biologische und klimatische Bedingungen, Kosmologien, unterschiedliche Weltzeitalter etc. Sie bietet nahezu jedem (akademischen) Wissenskontext die Gelegenheit, sein Potential und Selbstverständnis in einem Möglichkeits- wie Unmöglichkeitsraum auszuloten.
Die Pluralität und das gleichzeitige Vorhandensein unterschiedlicher, ja sogar einander widersprechender Wirklichkeitskonzepte ist etablierter Topos der Kultur- und Sozialwissenschaften.[1] Problemlos lassen sich wissenschaftliche Narrative neben jene der Fantastik stellen, ohne dass deren gleichzeitiges Bestehen im selbstgesponnenen Bedeutungsgewebe der Kultur[2] einen existenziellen Antagonismus zwischen beiden hervorbrächte. Das liegt gerade nicht daran, dass die eine Erzählung wahr, die andere aber unwahr sei, sondern dass beide fiktionale Narrative im Sinne Hayden Whites sind, der davon ausgeht, dass es zwischen wissenschaftlichen und literarischen Funktionen mehr Gemeinsames als Trennendes gibt.[3] Sofern eine fantastische Erzählung innere Kohärenz aufweist, bildet sie nach Wittgenstein ebenso sinnvolle Sätze[4] wie jede andere Erzählung, es kommt ihr (in Rahmen dieses eng begrenzten Wahrheitsbegriffs) ebenso die Qualität des Wahren zu wie den Newton’schen Gesetzen. Die Akzeptanz dieser Sichtweise führt die Fantastik in ein existenzielles Problem: Wenn jede Erzählung, die sinnvolle Sätze bildet, als Aspekt des Realen wahrgenommen würde, unterschiede die Fantastik nichts mehr von anderen Erzählungen; sie verschwände.
Doch im alltäglichen Umgang wird sehr wohl eine Trennlinie zwischen Fantastik und anderen Aspekten des Realen gezogen. Wie lässt sich diese lebensweltliche Praxis mit dem zuvor Gesagten vereinen? Wie entstehen fantastische Welten, in und neben anderen multiplen Weltvorstellungen, in Produktion und Rezeption? Welche unterschiedlichen Funktionen zur Ordnung und Aneignung des Realen bringen diese Welten hervor? Texte als fantastisch zu bezeichnen ist mithin nicht mehr als eine besondere Praxis der Vergewisserung ihres fiktiven Charakters – womit sich die Frage stellt, welche Strukturen, Inhalte und Traditionen diese Praxis stimulieren.
Als fantastisch gelten Erzählungen, die in entscheidenden Bedeutungszuweisungen gegen den unserem Alltag zu Grunde gelegten Realitätenkonsens verstoßen und einen eigenen, einen Gegenrealitätenkonsens, eine „andere Welt“ etablieren. Innerhalb der Fantastik lassen sich wiederum weitere Differenzierungen dieser Zuweisungen in Genres fassen: Die Science Fiction verwendet für ihren Weltenbau zentrale Motive wie kulturelle Praktiken und Objekte (interstellares Reisen, Wurmlochgeneratoren etc.), die zwar nicht Teil des alltagsweltlichen Realitätenkonsenses sind, sich aber innerhalb eines von diesem aufgespannten Möglichkeitsraums befinden, also wenigstens als zukünftig verwirklichbar gelten können. Während der stark naturwissenschaftlich geprägte Realitätenkonsens der Moderne das Beamen nicht prinzipiell ausschließt, verneint er die Möglichkeit einer Dämonenbeschwörung grundsätzlich.
Damit jedoch die Fantasy ihre Funktion als Negativ des Realen erfüllen kann, muss wesentlichen Motiven ihres Weltenbaus ein imaginärer Charakter zugewiesen werden können. Gleichzeitig gilt die Prämisse, dass wenigstens einige Elemente dieser „Welterzählung“ anschlussfähig an den alltagsweltlichen Realitätenkonsens sein müssen. Typisch für diese Einbindungsstrategie ist die Darstellung von kulturellen Praktiken, die an etablierte Imaginationen von Historizität anknüpfen. Der Verweis auf ein an geläufige Vorstellungen des europäischen Mittelalters angelehntes Setting leistet beides in idealtypischer Weise. Einerseits distanziert er die Erzählung von der Lebenswelt des Rezipienten und verdeutlicht so deren fiktiven Charakter, andererseits greift er auf verfügbare Elemente des alltagsweltlichen Realitätenkonsenses zurück, um die Besonderheit der phantastischen Welt der Narration zu verdeutlichen.
Wolfgang Iser versteht das Fiktive „als intentionale(n) Akt“[5] des Fingierens, und „(d)as Imaginäre (…) gewissermaßen (als) das Bild, das sich der Betrachter von den Effekten des Fingierten macht.“[6] In allen Texten findet eine Art von Welterzeugung statt, und die Produktion wie Rezeption dieser Texte ist jeweils in veränderliche Kontexte und andere Narrative eingebunden. Gegenstand der Konferenz soll es sein, medienübergreifend jene Akte des Fingierens hervorzuheben und zu reflektieren, die die Erschaffung fantastischer Welten ermöglichen, sowohl auf theoretischer Basis als auch in der Beschreibung konkreter Werkzeuge und Verfahrensweisen, die fantastische Vorstellungen erzeugen.
Keynotes:
Stefan Ekman (Universität Göteborg, Schweden)
Farah Mendlesohn (Anglia Ruskin University, UK)
Mögliche Themen:
- Intermediale (gar medienspezifische) Merkmale und Indikatoren fantastischer Welten in Film, TV, Literatur, (digitalen) Spielen etc.
- Wie konstituiert Extradiegetisches fantastische Welten und umgekehrt? Von sozialen und kulturellen Systemen über Ideologien, biologische und klimatische Bedingungen, Kosmologien, unterschiedliche Weltzeitalter etc.
- Methoden und Praktiken des Worldbuildings – Reflexion ökonomischer und technischer Ressourcen – transparentes World-Building (Making-ofs, Ausstellungen, Interviews, etc.)
- Bauanleitungen: Sourcebooks, World Editors, Table-Tops, Miniaturen, Dioramen, LARPS
- Selbstverständlich sind wir offen für weiterreichende Vorschläge; die Konferenz beinhaltet einen „Open Track“ für Präsentationen, deren Inhalte über den in diesem Call skizzierten Bereich hinausgehen.
[1] Vgl. Shmuel N. Eisenstadt, Multiple Modernities, in: Daedalus 129/1 (2000), S. 1-29, hier S. 1; Ernst Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie (Suhrkamp: Frankfurt a. M., 1977), S. 146; Vgl. Claude Lévi-Strauss, Das Wilde Denken(Suhrkamp: Frankfurt a. M. 2010.
[2] Vgl. Clifford Geertz, ‚Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur‘, in: Stephan Kammer/Roger Lüdeke (Hg.), Texte zur Theorie des Textes (Stuttgart: Reclam, 2005), S. 274-292.
[3] Vgl. Hayden White, Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung (Fischer: Frankfurt a. M. 1990), S. 12.
[4] Vgl. Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosopicus, 4.22.
[5] Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie (Suhrkamp: Frankfurt am Main 1993), S. 20.
[6] Ebd. S. 20f.